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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Jäckel
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knallroten Mund. Bis Max entlassen würde, bliebe mir noch Zeit, es herauszufinden.

Der Täter als Werkzeug Gottes

    Eines Tages vertraute Max mir an, dass er ein Erlebnis nie verkraftet hätte. Als er ein Kind war, lief im Pfadfinderlager ein kleines Mädchen aus der Gruppe weg und wurde Tage später in einem See, nahe dem Zeltlager der Gruppe, ertrunken aufgefunden. Vermutlich war es zu weit hinausgeschwommen und nicht kräftig genug für den Rückweg gewesen. Er sei von diesem Schrecken wie erstarrt gewesen und dadurch für die Zukunft so sehr in seinen Gefühlen gehemmt worden, dass er sich vollkommen verschlossen und niemanden mehr an sich herangelassen habe. Zum Beispiel könne er seitdem nicht mehr um einen anderen Menschen weinen.
    Die bloße Vorstellung, wie Max angesichts des verunglückten Kindes zumute gewesen sein musste, tat mir weh. Als ob er vorhergesehen hätte, dass ich um ihn weinen würde, hatte er mir wie zum Trost eine Geschichte gesandt, in der es um Schuld, Liebe und Verzeihen ging. Eifrig begann ich zu lesen, doch je mehr ich mich mit dem Text befasste, desto unwohler wurde mir.

    Es ging in der Geschichte um ein kleines Mädchen, das aus Ungehorsam den Holzvorrat eines ganzen Dorfes vernichtet hatte und sich in seiner Angst nicht mehr nach Hause traute. Als es schließlich gefunden wurde, verziehen ihm alle Dorfbewohner und sprachen drei magische Sätze. Sinngemäß besagten sie, dass das Kind von jedermann im Dorf geliebt und gesegnet werde und sich deshalb auch selbst lieben und segnen solle.
    Als Fazit aus diesem globalen Verzeihen wurde die Erkenntnis gezogen, dass ein Mensch, der ein negatives Ereignis auslöse, nur ein Werkzeug Gottes für eine bestimmte Veränderung sei, aber keine Schuld trage. Statt nach der eigenen Schuld oder der eines anderen zu suchen, solle man das Geschenk genießen, das in der Veränderung stecke.
    Mit anderen Worten, wenn jemand ein Kind sexuell missbraucht und das Leben des Kindes für immer verändert, musste er sich nicht schuldig fühlen, weil Gott diesen Missbrauch nur als Werkzeug gebraucht, um das Kind zu ändern, und somit die Veränderung ein Geschenk für das Kind ist?
    Welches Geschenk hatte ich dann erhalten? Meine Albträume, meinen Selbsthass, meine schlotternden Glieder, wenn ich ein Streicheln aushalten sollte, meine Tränen und das deprimierende Gefühl, nie mehr ich selbst werden zu können?
    War das der Grund, warum Frederic sich nicht schuldig gefühlt hatte, sondern immer nur von einem Fehler sprach, den Gott verzeihen werde? Dachte Max deshalb nicht schuldbeladen an die kleinen Kinder, denen er seine erwachsene Lust aufgedrängt hatte? Begriffen diese Männer überhaupt, was sie uns Kindern angetan hatten?
    Ich habe lange und immer wieder über diese Geschichte nachgedacht. Aber ich habe Max auch danach niemals gefragt. Wie schon bei seinen mir rätselhaften Therapiezeichnungen hatte ich zu viel Angst vor seinen Antworten. Wieder einmal war Schweigen Gold.

Besuche im Knast

    Meine Besuche bei Max in der Cafeteria der Gefängnispsychiatrie hinterließen stets einen bittersüßen Nachgeschmack. Wir hatten uns beide verändert, seit wir zuletzt miteinander Motorrad gefahren waren. Aus mir war eine staksige, junge Frau geworden, die sich immer an der Grenze zur Magersucht bewegte. Ich trug gefärbte Strähnen im Haar und eine breit geränderte Brille, hinter der ich mich der Welt wie durch schützende Fensterrahmen näherte. Er hatte immer noch denselben Riesenadamsapfel, doch inzwischen schütteres Haar und um die Taille ordentlich zugelegt, so dass er wie Balu, der Bär, auf mich wirkte. Ich hatte ein Faible für Männer, die gut beisammen waren. Aber es war ein gruseliges Gefühl, Max im Gefängnis gegenüberzusitzen.

    Unsere Korrespondenz hatte immer etwas Sommerferienhaftes an sich gehabt. Jetzt war ich durch ein Gefängnistor gegangen und einer »Visitation« unterzogen worden, bei der ich sogar meine Armbanduhr abgeben musste. Und nun saß ich einem Max gegenüber, der mich nicht einfach hinaus in den Garten begleiten oder eine Flasche Wein zum Wiedersehen mit mir leeren durfte.
    Wenn ich Frederic angezeigt hätte und er wegen Kindes-missbrauchs verurteilt worden wäre, hätte auch er in einem
    solchen Bau gesessen und Exerzitien wie fürs Guinnessbuch der Rekorde aufgebrummt bekommen. Wie gern hätte ich Frederic in diesem Moment gegen Max eingetauscht.
    Wohl, weil ich mir vorgestellt hatte, wie Frederic im Knast säße, überkam

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