Er war ein Mann Gottes
Einladung annahm, sie alsbald zu besuchen.
Eine kleine Urlaubsreise kam mir gerade recht. Etwas Abstand von Max und seinen sonderbaren Launen und Selbstbesinnungszeiten würde mir guttun. Außerdem hoffte ich, meine plötzliche Abwesenheit würde ihm bewusst machen, dass selbst meine Geduld einmal ein Ende haben könnte.
Im Hospiz von Schwester Reintraudis erwartete man mich schon. Ein nettes Gästezimmer stand bereit, und nach einem Vorstellungsgespräch, in dem ich viel über meine Beziehung zu einem geweihten Priester sprach, wurde mir verständnisvoll versichert, dass auch für meinen lieben Freund und mich ein Platz in dieser Gemeinschaft vorhanden sei.
Ich staunte. Ein gemischtes Kloster? Ja, gab es denn so etwas? Was für ein Kloster mochte das sein?
Obwohl ich von einer gemeinsamen Wohnung mit Max träumte, wurde mir bei der Vorstellung, zusammen mit ihm als Mönch und Nonne unter einem Klosterdach zu leben, äußerst mulmig zumute. Aber jetzt war ich einmal da und neugierig und ließ mir nichts von meinem unheiligen Schrecken anmerken. Die coole Cora meldete sich zurück, die für jedes verrückte Abenteuer zu haben war und dabei auch vor dem Allerheiligsten nicht Halt machte. Ich gestehe, es machte mir Spaß, mich ohne jede Ernsthaftigkeit auf einen Testlauf in diesem Kloster einzulassen.
Beim Abendessen im Refektorium, dem Gemeinschaftsspei-sesaal, saßen tatsächlich Mönche und Nonnen einträchtig und sogar mit Kindern an langen Tafeln beisammen und speisten. Wenngleich die Stimmen gedämpft wurden, redeten und lachten alle, während herzhaft nach den schlichten, doch ebenso schmackhaften wie reichlichen Speisen gegriffen wurde.
Noch ehe ich Schwester Reintraudis fragen konnte, wessen Kinder das denn seien, predigte die Stimme der verstorbenen Ordensgründerin aus einem Lautsprecher über die Tischgesellschaft hinweg von Nächstenliebe und der Liebe Jesu zu Kindern. Meine Frage erübrigte sich damit, denn aus den Gebeten und christlichen Texten der Toten ging hervor, dass es sich bei den Kindern um Waisenkinder handelte, die aus Mildtätigkeit in den Orden aufgenommen worden waren und hier nun wie in einer Großfamilie aufwuchsen.
In gewisser Weise fand ich es gut, dass die Kinder hier ein neues Zuhause gefunden hatten. Trotzdem stieg die Frage in mir auf, ob es sich wohl tatsächlich ausschließlich um Waisenkinder handelte oder nicht doch so manches geheime Priester- und Nonnenkind unter ihnen lebte.
Womöglich hatte ich ja, ganz ohne es zu ahnen, das geheime Kloster entdeckt, in dem angeblich nur Priester- und Nonnenkinder aufgezogen werden, die von ihren Eltern verlassen wurden, weil diese ihr Leben in der Kirche nicht aufgeben wollen?
Früher galten Kinder des niederen Klerus als so genannte Kirchensklaven, die in Klöstern aufgezogen wurden und niemals heiraten durften. Aus Büchern wusste ich, dass sie heute noch als »Sakrilegus« bezeichnet werden, weil sie angeblich »Tempelräuber« seien, die ihre Existenz aus dem gottgeweihten Samen eines Priesters oder der ihrem himmlischen Bräutigam vorbehaltenen Eizelle einer Braut Christi geraubt hätten.
Das Gerücht von der Existenz eines solchen Klosters oder Kinderheims hält sich draußen in der Welt seit Jahren, obwohl die Kirche vehement dementiert, sich jemals der verbotenen Kinder des zölibatären Klerus angenommen zu haben. Mein Besuch in Schwester Reintraudis’ Kloster ließ es mir durchaus glaubhaft erscheinen, dass die Kirche log.
Priester, die wie Frederic Kinder sexuell missbrauchten und ihren Zölibat brachen, hatten keine Skrupel zu lügen, obwohl sie sich von Gott zum heiligsten Dienst am Altar berufen fühlten. Entgegen der Beteuerungen der Kirchenobrigkeit gab es nicht nur einzelne schwarze Schafe unter den Gottesmännern. Also log nicht nur der Einzeltäter, sondern auch die Kirchenobrigkeit ganz ungeniert.
Ebenso verhielt es sich mit der Anzahl der verbotenen Priesterkinder. Wollte man der Kirche glauben, gab es nur einige wenige. Tatsächlich sind es Hunderttausende auf der Welt. Wieso sollte es also nicht auch ein Kloster geben, in dem Priester- und Nonnenkinder als angebliche Waisenkinder großgezogen und in einer zugehörigen Klosterschule unterrichtet werden?
Ich nahm mir vor, Max danach zu fragen. Als Mann Gottes würde er vielleicht Näheres darüber wissen. Vor allem, dachte ich aufgeregt, müsse es ihm doch ebenso ein Anliegen sein wie mir, diese Geheimniskrämerei, dieses Vertuschen und Heucheln in
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