Er war ein Mann Gottes
verlernte Erfahrung sei und dass er all die verkümmerten Gefühle und Bedürfnisse nach seiner Entlassung in vollen Zügen ausleben und genießen wolle. Dass er damit mich meinte, schien mir sicher. Schließlich versicherte er stets aufs Neue, dass er sich ein Leben ohne mich nicht mehr vorstellen könne und ich ein sehr wichtiger, unverzichtbarer Mensch für ihn sei.
Wie herzlich bedauerte ich ihn dafür, dass er seine Sehnsucht nach Zärtlichkeit mit einer Frau bisher immer und immer wieder verdrängen musste und jetzt gar nicht mehr recht verstand, zu Gunsten wovon. Sein Ansehen und seine Karriere in der Kirche seien ja nun beschädigt, wenn nicht gar dahin, wie er meinte. Im Grunde habe er also alles, worauf er so leidvoll verzichtete, umsonst aufgegeben.
Ich zitterte innerlich bei solchen Ausführungen. So oder doch ganz ähnlich musste Frederic empfunden haben. Anders als Max, der mir mit Galgenhumor schrieb, er habe ja nun im Bullenkloster viel Zeit, über alles nachzudenken, hatte Frederic keine Zeit zum Überlegen und Hinterfragen gehabt. Auf ihm hatten Berge von Aufgaben gelastet. Max beschrieb es richtig, als Priester hatten sie Vater für alle sein müssen, aber wirklich Vater durften sie nicht werden.
Zärtlich lächelnd sah ich Max vor meinem inneren Auge, wie er in seinem einsamen Gefängnispsychiatrie-Zellenbett von mir träumte und malte mir aus, wie er mit seinem Wischmopp durch die weiß gekachelte Küche der Cafeteria putzte und dabei räsonierte, wie es wohl wäre, eine Frau zu lieben. Er war mehr als doppelt so alt wie ich und doch ein Junge geblieben, der scharf auf sein erstes Mal war und gleichzeitig Angst hatte, sich zu blamieren.
Beinahe eine Liebeserklärung
»Fast ein Liebesbrief aus dem Knast«, leitete Max den einen oder anderen Brief an mich ein. »Beinahe eine Liebeserklärung von dir«, kommentierte er meine Schreiben. Mein Herz schlug höher, wenn ich träumte, wie es sich erst anhören würde, wenn es nicht mehr nur fast oder beinahe eine Liebeserklärung wäre.
Er habe mir so manches erzählt, was ihn bewege und wundere sich selbst darüber: »Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich dich mag.« Dazu schickte er mir eine Karte, worauf eine quietschgrüne Raupe ihr Kussmaul schürzt und in einer Sprechblase lockt: »Küss meine zarten Lippen. Ich bin dein verwunschener Prinz!«
Öffnete man die Karte, kam ein Schmetterling zum Vorschein. Max hatte mit »Dein Max« unterschrieben. Was konnte verheißungsvoller sein? Ich schwebte auf Wolken.
»Du schreibst, dass du mich auf meinem Lebensweg begleiten willst«, hieß es in einem der nächsten Briefe. »Hast du überhaupt eine Ahnung, worauf du dich da einlässt, wenn du zu mir stehst? Ich weiß ja im Moment selbst noch nicht einmal, wer ich bin. Noch bin ich ein fetter Rauperich. Ob der sich jemals in einen Schmetterlingsprinzen verwandeln kann? Ob Küssen hilft? Liebe Cora, ich denke oft an dich.«
Wie es heißt, werden Frauen am schnellsten weich, wenn sie einen leidenden Mann trösten können. Mein Helfersyndrom jedenfalls begann auf Hochtouren zu arbeiten. Am liebsten hätte ich alles stehen und liegen gelassen, um auf der Stelle zu Max zu fahren und ihn in einen Prinzen, meinen Prinzen, zu verwandeln.
»Es tut mir sehr gut, durch dich zu lernen, dass ich trotz allem, was gewesen ist, noch ein wertvoller Mensch bin und eine Zukunft habe«, gestand Max. »Ich fürchte nur, dass ich sehr lange brauchen werde, bis ich überhaupt wieder Vertrauen schenken kann.«
»Was teilte er mir da eigentlich mit?«, frage ich heute. Er, der das Vertrauen unschuldiger Kinder missbraucht hatte, beklagte sich, niemandem mehr trauen zu können. Fühlte er sich etwa getäuscht, weil die Kinder, die ihm zu schweigen versprochen hatten, sein Geheimnis verraten und ihre Mutter, ihre Eltern, das Gericht um Hilfe gebeten hatten?
Damals fiel mir dieser Satz gar nicht auf. Ich nahm einzig wahr, dass Max sich durch mich, durch meine Liebe, wertvoll gemacht wähnte. Ich, die immer »irgendwie verkehrte« Cora, war ihm wichtig. Ich war richtig für ihn. So, wie ich es als Kind für Frederic gewesen war.
Es schien mir sonnenklar, dass nicht Max, wie Gott ihn schuf, zum Missbrauchstäter geworden war. Die Kirche, der Zölibat hatten ihn dazu gemacht. In meiner Version der Ereigniskette war Max eher ein Opfer als ein Täter. Wir waren beide einsame, von Sehnsucht zermürbte Seelen, jeder auf seine Weise. Und Frederic, jetzt endlich begann ich es
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