Er war ein Mann Gottes
mich Auge in Auge mit Max der Wunsch, ihn zu fragen, ob er die Kinder, an denen er sich vergangen hatte, geliebt hatte. Warum hatte er sie ausgewählt? Wie waren sie?
Aus der Zeitung wusste ich, dass er sich in einem Fall unter dem Vorwand an eine allein erziehende Mutter herangemacht hatte, ihr durch Kinderbetreuung helfen zu wollen, einen Arbeitsplatz annehmen zu können. Offenbar war sie gern auf sein Angebot eingegangen und hatte ihm die Kinder anvertraut, wenn sie keinen Babysitter hatte. Die Jungen hatten ihn geliebt und ihm vertraut.
Ob er sie auch immer auf den Schoß genommen und gestreichelt und geküsst hatte? War aus diesen Anfängen sozusagen automatisch mehr geworden? Öder hatte er von Anfang an geplant, die wehrlosen Kinder zu missbrauchen?
Ich fragte nichts. Stattdessen redeten wir übers Wetter und die Eurostücke für den Cola-Automaten, aus dem wir uns bedienen mussten, weil es verboten war, etwas von draußen in die Haftanstalt mitzubringen.
Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Max gern meine Hände gestreichelt hätte. Aber er traute sich nicht, und ich wagte es nicht. Wie zwei schüchterne Kinder saßen wir da und versuchten verzweifelt, die gedankliche Nähe, die wir schreibend über Kilometer hinweg und durch Gitter hindurch erzeugten, durch das gesprochene Wort zum Leben zu erwecken.
Vorfreude auf die Haftentlassung
Da ich mich immer zärtlicher in meinen Brieffreund verliebte, erschien es mir zunehmend selbstverständlich, dass er das Beste für sich aus der Haftzeit herausholen, möglichst schnell wieder auf freien Fuß und zu mir kommen würde. Ich freute mich für ihn, dass er so schnell zum Freigänger geworden war, dass er sich im »Offenen Vollzug« wohlfühlte.
Da er die versprochene Arbeitsstelle bei einer kirchlichen Beratungsstelle erhalten hatte, war die Zeit des Strafe-Absit-zens vorbei. Ich durfte ihm in beliebig vielen Paketen seine Wünsche nach Lebensmitteln, Telefonkarten und Barem erfüllen und empfand beglückt mit ihm mit, wie erschütternd es für ihn war, nach so langer Zeit erstmals wieder echtes Geld in Händen zu halten. Auch unsere Briefe wurden nicht mehr zensiert. Wir träumten darin von gemeinsamen Urlaubsreisen und gegenseitigen Besuchen in unseren Wohnungen. Tunesien sollte unser erstes Ziel sein, sobald er ein freier Mann wäre. Ich hatte mir vorgenommen, ihn in diesem Urlaub glücklich zu machen. Sein Glück, dachte ich, wäre Glück genug für mich.
Bei Tag räumte und rückte ich voller Vorfreude auf den ersten Besuch von Max bei mir an meinen Möbeln herum. In meinen einsamen Nächten aber holte mich alles ein, was ich am Tage durch die rosarote Brille der Verliebtheit nicht wahrnehmen wollte. Wünschte ich mir bei Tag ein Kind von Max, erwachte ich schweißgebadet in der Nacht, weil ich träumte, Max im Priestergewand nehme es mir weg. Mein Kopf konnte die Ungeheuerlichkeit des Kindesmissbrauchs abhaken, meine Seele nicht.
Trotzig beruhigte ich mich damit, dass Max sich ja nicht um die Verantwortung für seine Straftaten gedrückt habe. Auch wenn ich überdeutlich spürte, wie ungerecht all die Lockerungen in der Haft und die vorzeitige Haftentlassung eigentlich waren. Wie Gott dem reumütigen Beichtkind verzieh und die Sünde aus dem Sündenregister löschte, so handelte der Gesetzgeber an Max. Max hatte einen Fehler gemacht, zugegeben. Dennoch hielt ich ihn für einen wertvollen Menschen. Außerdem meinte ich durch seine Briefe mitzuerleben, dass er an sich arbeitete und mit Hilfe vieler Professioneller auf den rechten Lebensweg zurückgeführt wurde. Warum also musste ich päpstlicher als der Papst oder gerechter als ein Richter sein?
Den Ausschlag für mein Vertrauen in Max gab aber wohl, dass er so viel Grund zu der schönen Hoffnung in mir weckte, er habe mich ebenso lieb gewonnen wie ich ihn. Seine Briefe enthielten immer ein paar besonders zärtliche Worte; »Extrasätzle«, wie ich sie von Frederic gekannt hatte. Seine scheue, doch von Brief zu Brief mutiger ausgedrückte Liebe war in meinen Augen der beste Garant dafür, dass Max mit seinem alten Leben und den »Jungengeschichten« abgeschlossen habe.
Max sei vollkommen anders als Frederic, suggerierte ich mir. Frederic hatte sich um jede Verantwortung herumgemogelt. Er hatte nicht gebüßt. Er machte ungestört so weiter wie bisher. Unsere Freundschaft hatte ihn nicht davor bewahrt. Ich hatte ihn nicht gerettet. Max aber rettete ich.
Seine baldige Freiheit würde eine Freiheit
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