Er
zurecht, was gab es dann da zu überlegen? Es war demütigend. Er rückte von Lea weg, die Stuhlbeine kreischten auf den Fliesen. Anna verzog das Gesicht, ihr Mund konnte sehr breit werden.
»Die Wahrheit gedeiht nicht in jeder Umgebung«, sagte Frank.
»Ihr seid so langweilig«, sagte Anna. Sie schob den Teller von sich. »Also, was ist? Was guckt ihr mich alle an? War ich wieder mal zu ehrlich? Ist Hannes jetzt beleidigt?«
»Sprich bitte nicht über ihn, als sei er nicht da«, sagte Lea. »Außerdem ist mir kalt. Dir nicht auch, Anna? Vielleicht holen uns die beiden Herren im Hotel die Pullover.«
»Ich ziehe mir doch über dieses Kleid keinen Pullover an!«, sagte Anna. »Aber gut, wenn du mich unter vier Augen zusammenscheißen willst.«
»Das ist eine gute Idee«, sagte Frank. »Hannes. Komm, wir holen den Mädchen was Warmes.«
»Wird es wehtun?«, fragte Anna.
»Wenn du stillhältst, nicht«, sagte Lea.
Jemand hatte Venedig erfunden, und da es ein Erfolg war, konnte man damit nicht aufhören. Es kam Jensen vor wie »Die Mausefalle« von Agatha Christie, ein Stück, das seit sechzig Jahren ununterbrochen aufgeführt wurde. Auch Venedig war eine Inszenierung, es machte jeden Besucher zum Statisten, nirgends war man so sehr Tourist wie hier. Selbst Lea blieb ständig stehen und sagte: »Schaut mal!« Zum ersten Mal schämte er sich für sie, ihre ganze Intelligenz und Originalität opferte sie irgendeiner Dutzendgondel. Lektion 1: Ein Mensch wird dadurch, dass man ihn liebt, nicht vollkommener. Er wird allerdings schöner. Lea blühte, er auch, sie hatten heute Morgen im Bad des Hotelzimmers sich nebeneinander vor den Spiegel gestellt, und Lea sagte: »Schau mal, wir sind schön geworden.«
»Du warst es schon immer«, sagte Jensen.
»Du warst auch nicht hässlich, als du in meinen Blumenladen kamst. Aber du hattest nicht diese leuchtenden Augen. Und deine Oberlippe war verkümmert. Schau sie dir jetzt an. Du hast jetzt überhaupt erst wieder eine.«
»Du darfst es Anna nicht übel nehmen«, sagte Frank. Sie gingen durch das Bühnenbild Nächtliches Venedig, warmes Licht einer Straßenlampe, Widerhall der Schritte in der Gasse. »Sie ist auf alle Männer von Lea eifersüchtig. Hat sie’s bei dir schon versucht?«
»Was?«
»Dich ins Bett zu kriegen.«
»Sagtest du nicht gerade, dass die Wahrheit nicht in jeder Umgebung gedeiht? Nein, sie hat es nicht versucht.«
»Dann kommt das noch.« Frank zündete sich eine Zigarette an. »Das bleibt unter uns, okay? Sie mag es nicht, wenn ich rauche. Das ist wahre Liebe.« Er lachte, sein Mund bekam etwas Obszönes. »Wenn wir verheiratet wären, würde sie mir eine Zigarette nach der anderen in den Mund stecken. Ich werde nämlich mal erben.« Er blies den Rauch wichtig in die Nacht. »Und nicht wenig. Darf ich dich etwas fragen, Hannes?«
»Ja.«
»Liebst du Lea?«
Es war eine schwierige Frage. Lea sprach das Wort nie aus, er auch nicht, das Wort wog zu viel, zwei Hände waren zu wenig, um es zu tragen, es hätte vier gebraucht, und man hätte es gleichzeitig entschlossen anpacken müssen, nicht, wenn der eine gerade schwächelte und der andere sich vor Unsicherheit den Kopf kratzte. Ein exaktes Timing wäre erforderlich gewesen. Es war kompliziert und auch zu persönlich, und deswegen war die einfachste und in diesem Fall auch unpersönlichste Antwort die beste.
»Ja«, sagte Jensen.
»Entschuldige. Es war eine dumme Frage. Man sieht’s dir ja an. Du hast Christbäume in den Augen, wenn du sie anschaust.«
Sie überquerten eine Brücke, der Wind wehte Jensen etwas ins Auge, eine kleine Christbaumkugel, dachte er. Auf der anderen Seite des Kanals schloss sich ihnen ein kleiner, schwarz gefleckter Bettelhund an.
»Dass es hier streunende Hunde gibt«, sagte Frank. »Sollen wir ihn ersäufen?« Wieder lachte er auf eine dreckige, hektische Art, manchmal tat er Jensen leid. »Lea hat erzählt, dass du ihr deinen Hund verkaufst, für Toni? Toni ist ein merkwürdiges Kind, findest du nicht auch? Ich würde als Hund nicht gerne mit ihr allein sein, ich glaube, sie kann sehr grausam sein.« Er zog mehrmals hintereinander die Nase hoch und beschleunigte seinen Schritt, er schwitzte, fuhr sich mit den Fingern über die Lippen, redete belanglos über Toni, sprach noch einmal über sein Erbe, großspurig.
Plötzlich erkannte Jensen es, mit einer Verzögerung, die ihn erleichterte: Er war tatsächlich nicht mehr Polizist, hatte sein Gespür für Süchtige
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