Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
mehr begann sie, mit den Augen den Linien zu folgen, die sich durch das Muster der Kacheln an der Decke zogen. Die schmale blaue Linie führte zu einem kleinen weißen Fleck an der Ecke einer Kachel, den sie bisher übersehen hatte. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass dort einfach eine Ecke der Kachel abgeplatzt war.
Der Anblick erheiterte sie, denn sie fand es komisch – und irgendwie tröstlich –, dass Galbatorix’ perfekter Raum am Ende doch nicht so perfekt war und dass er trotz seiner Behauptungen des Gegenteils nicht allwissend oder unfehlbar war.
Als sich die Tür das nächste Mal öffnete, war es der Wärter, der ihr eine Mahlzeit brachte. Es musste wohl das Mittagessen sein, nahm Nasuada an. Sie fragte ihn, ob sie zuerst essen dürfe, bevor er sie aufstehen ließ, denn sie erklärte, ihr Hunger sei größer als alles andere, was nicht ganz gelogen war.
Glücklicherweise ging er auf ihre Bitte ein, obwohl er kein Wort sprach, sondern nur sein grässliches Zangenlächeln lächelte und sich auf die Kante des Steins setzte. Während er ihr warmen Brei in den Mund löffelte, rasten ihre Gedanken und sie versuchte für jede Eventualität Pläne zu schmieden, denn sie wusste, dass sie nur eine einzige Chance bekommen würde.
Die Aufregung machte es ihr schwer, das fade Essen hinunterzuwürgen. Trotzdem schaffte sie es, und als die Schale leer war und sie genug getrunken hatte, machte sie sich bereit.
Der Mann hatte das Tablett wie immer an die gegenüberliegende Wand gestellt, ganz nah bei der Stelle, wo Murtagh gesessen hatte, und vielleicht zehn Fuß von der Tür zum Abort entfernt.
Sobald die Fesseln gelöst waren, ließ sie sich von der Steinplatte gleiten. Der birnenköpfige Mann beugte sich vor, um ihren linken Arm zu nehmen, aber sie hob eine Hand und sagte mit ihrer süßesten Stimme: »Ich kann jetzt allein aufstehen, vielen Dank.«
Ihr Wärter zögerte, dann lächelte er wieder und ließ zweimal die Zähne aufeinanderklappern, als wolle er sagen: »Schön, das freut mich für dich!«
Sie gingen auf den Abort zu, sie voraus und er ein kleines Stück hinter ihr. Als sie den dritten Schritt machte, verdrehte sie sich absichtlich den rechten Knöchel und stolperte schräg durch den Raum. Der Mann stieß einen erschrockenen Laut aus und versuchte sie aufzufangen – sie spürte, wie seine dicken Finger neben ihrem Hals in die Luft griffen –, aber er war zu langsam und sie wich seinem Griff aus.
Der Länge nach fiel sie auf das Tablett. Dabei zerbrach der Krug – in dem immer noch ziemlich viel gewässerter Wein war – und die Holzschale rollte über den Boden. Absichtlich landete sie auf ihrer rechten Hand, und sobald sie das Tablett spürte, begann sie nach dem Metalllöffel zu tasten.
»Aah!«, rief sie, als habe sie sich verletzt, dann drehte sie sich auf den Rücken, sah zu dem Mann hoch und gab sich alle Mühe, bekümmert zu wirken. »Vielleicht war ich doch noch nicht so weit«, stellte sie fest und lächelte ihn entschuldigend an. Mit dem Daumen fand sie den Griff des Löffels und schloss ihre Hand darum, noch während der Mann sie an ihrem anderen Arm hochzog.
Er musterte sie und rümpfte die Nase, als sei er angeekelt von ihrem weindurchnässten Hemd. Während er das tat, verbarg sie die Hand mit dem Löffel hinter dem Rücken und schob den Griff des Löffels durch ein Loch in den Saum ihres Hemdes. Dann hob sie die Hand wie zum Zeichen, dass sie nichts genommen hatte.
Der Mann stieß einen unverständlichen Laut aus und schob sie zum Abort hinüber. Als sie hineinging, schlurfte er zurück zu dem Tablett und murmelte leise etwas vor sich hin.
Sobald sie die Tür geschlossen hatte, zog sie den Löffel aus dem Hemdsaum und schob ihn zwischen die Lippen, während sie sich mehrere Haarsträhnen vom Hinterkopf riss, wo ihr Haar am längsten war. So schnell sie konnte, nahm sie ein Ende der Haare zwischen die Finger ihrer linken Hand und rollte mit der Innenfläche ihrer rechten Hand die losen Strähnen an ihrem Oberschenkel hinunter, sodass sie eine behelfsmäßige Schnur ergaben. Ihr wurde ganz kalt, als sie begriff, dass die Schnur zu kurz war. Mit fliegenden Fingern verknotete sie die Enden und legte die Schnur auf den Boden.
Sie riss sich noch mehr Haare aus und rollte sie zu einer zweiten Schnur, die sie ebenso verknotete wie die erste.
In dem Bewusstsein, dass ihr nur noch wenige Sekunden blieben, ließ sie sich auf ein Knie fallen und knotete die beiden Schnüre
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