Eragon 04 - Das Erbe Der Macht
an. »Nasuada … seit Urû’baen sind acht Jahre vergangen.«
Nein, dachte sie. Das kann nicht sein. Und doch wirkte alles, was sie sah und fühlte, so real. Die Bewegungen von Murtaghs Haar, wenn der Wind es zerzauste, der Duft der Felder, das Gefühl des Kleides auf ihrer Haut – es schien alles genau so zu sein, wie es sein sollte. Aber wenn sie tatsächlich hier war, warum hatte Murtagh sie dann nicht beruhigt, indem er ihren Geist berührte, wie er es schon einige Male getan hatte? Hatte er es vergessen? Wenn acht Jahre vergangen waren, erinnerte er sich vielleicht nicht mehr an das Versprechen, das er ihr vor so langer Zeit in der Halle der Wahrsagerin gegeben hatte.
»Ich …«, begann sie, dann hörte sie eine Frau rufen:
»Herrin!«
Sie schaute über ihre Schulter und sah eine stämmige Dienerin vom Gut herbeieilen, deren weiße Schürze flatterte. »Herrin«, wiederholte die Dienerin und machte einen Knicks. »Es tut mir leid, Euch zu stören, aber die Kinder haben gehofft, dass Ihr zusehen würdet, wenn sie ihr Spiel für die Gäste aufführen.«
»Kinder«, wisperte sie. Sie sah wieder Murtagh an und bemerkte, dass in seinen Augen Tränen glänzten.
»Ja«, bestätigte er. »Kinder. Vier insgesamt, alle stark und gesund und voll Lebensfreude.«
Sie schauderte, überwältigt von Gefühlen. Sie kam nicht dagegen an. Dann reckte sie das Kinn vor. »Zeig mir, was ich vergessen habe. Zeig mir, warum ich es vergessen habe.«
Murtagh lächelte sie an, als wäre er stolz. »Mit Vergnügen«, erklärte er und küsste sie auf die Stirn. Er nahm ihren Kelch und gab beide Gläser der Dienerin. Dann umfasste er ihre Hände, schloss die Augen und senkte den Kopf.
Einen Moment später spürte sie, wie ein Bewusstsein gegen ihren Geist drängte, und da wusste sie: Das konnte niemals er sein.
Wütend über die Täuschung und über den Verlust dessen, was niemals sein konnte, entzog sie Murtagh ihre rechte Hand, packte seinen Dolch und stieß ihm die Klinge in die Seite. Und sie rief:
»Ein Mann aus El-Harím, ein Mann mit gelben Augen,der sagte: Flüstre nicht, denn Flüstern wird nie taugen.«
Murtagh sah sie mit einer seltsam ausdruckslosen Miene an, dann verblasste er vor ihren Augen. Alles um sie herum – das Spalier, der Innenhof, das Anwesen, die Hügel mit den Weingärten – verschwand und sie fand sich schwebend in einer Leere ohne Licht und ohne Geräusche wieder. Sie versuchte, ihre Litanei fortzusetzen, aber kein Laut kam aus ihrer Kehle. Sie konnte nicht einmal das Pochen ihres Pulses in ihren Adern hören.
Dann spürte sie, wie die Dunkelheit sich drehte und …
Sie stolperte und fiel auf Hände und Knie. Scharfe Steine zerkratzten ihr die Handflächen. Blinzelnd, um sich an das Licht zu gewöhnen, erhob sie sich und sah sich um.
Nebel. Rauchfahnen, die über ein kahles Feld wehten, wie auf den Brennenden Steppen.
Sie trug wieder ihr zerlumptes Hemd und ihre Füße waren nackt.
Hinter ihr brüllte etwas, und als sie herumwirbelte, sah sie einen zwölf Fuß großen Kull auf sich zustürmen. Er schwang eine mit Eisenbändern beschlagene Keule, die so groß war wie sie selbst. Links von ihr ertönte ein weiteres Brüllen und sie sah einen zweiten Kull, außerdem vier kleinere Urgals. Dann huschten zwei in einem Umhang gewandete, bucklige Gestalten aus dem weißlichen Nebel und schossen auf sie zu. Sie zischten und schwangen ihre blattförmigen Schwerter. Obwohl sie sie noch nie zuvor gesehen hatte, wusste sie, dass es Ra’zac waren.
Sie lachte wieder. Jetzt versuchte Galbatorix einfach, sie zu bestrafen.
Ohne die auf sie zukommenden Feinde zu beachten – von denen sie wusste, dass sie sie niemals würde töten oder ihnen entkommen können –, setzte sie sich im Schneidersitz auf den Boden und begann eine alte Zwergenmelodie zu summen.
Galbatorix’ anfängliche Versuche, sie zu täuschen, waren raffiniert angelegt gewesen und hätten sie durchaus erfolgreich in die Irre führen können, wenn Murtagh sie nicht vorher gewarnt hätte. Um Murtaghs Hilfe geheim zu halten, hatte sie so getan, als wisse sie nichts davon, dass Galbatorix ihre Wahrnehmung der Realität manipulierte. Aber ganz gleich, was sie sah oder fühlte, sie ließ niemals zu, dass der König sie mit einer List dazu brachte, an Dinge zu denken, an die sie nicht denken sollte, oder noch viel schlimmer, ihm die Treue zu schwören. Es war nicht immer leicht gewesen, ihm zu trotzen, aber sie hielt an ihren gedanklichen und
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