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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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ihres Körpers, den die Scheinwerfer an die Wand warfen. Dort saß ihr wirkliches Ich. Die sich scharf abzeichnende Silhouette eines Menschen, der im Verfall begriffen war. Zottige Haare, die über die Schultern hingen, eine abgewetzte Jacke ohne Inhalt. Ein Relikt aus der Vergangenheit, das, sobald das Licht ausgeschaltet wurde, verschwunden war. Heute war der 4. April 2007. Ihr blieben noch einundvierzig Tage zu leben, aber sie wollte sich fünf Tage vorher, am 10. Mai, das Leben nehmen. An dem Tag würde Uffe vierunddreißig Jahre alt werden, und wenn sie sich die Adern aufstach, wollte sie an ihn denken und ihm Gedanken voller Liebe und Innigkeit und davon, wie schön das Leben sein konnte, schicken. Sein helles Gesicht sollte die letzte Erinnerung in ihrem Leben sein. Die Erinnerung an ihren geliebten Bruder Uffe.
    »Es muss jetzt schnell gehen«, hörte sie durch die Lautsprecher die Frau dort draußen auf der anderen Seite der Bullaugen schreien. »Lasse ist in zehn Minuten bei uns, bis dahin muss alles vorbereitet sein. Also reiß dich zusammen.« Sie klang aufgeregt.
    Hinter den verspie gelten Glasscheiben polterte es, und Merete sah hinüber zur Schleuse. Aber es kamen keine Eimer. Ihre innere Uhr sagte ihr auch, dass es zu früh war.
    »Mutter, wir brauchen hier drinnen einen anderen Akku«, schrie der magere Mann zurück. »Die Batterie hier funktioniert nicht. Wenn wir die nicht austauschen, können wir die Sprengung nicht auslösen. Das hat mir Lasse vor ein paar Tagen gesagt.«
    Sprengung? Eine Kältewelle durchfuhr Meretes Körper. Sollte es jetzt so weit sein?
    Sie warf sich auf die Knie und versuchte an Uffe zu denken, dabei rieb sie mit aller Kraft das messerartige Nylonstäbchen an dem glatten Betonboden. Ihr blieben nur noch zehn Minuten. Wenn es ihr gelang, tief genug zu schneiden, würde sie vielleicht binnen fünf Minuten das Bewusstsein verlieren. Nur darum ging es jetzt noch.
    Das Nylonstäbchen änderte viel zu langsam seine Form. Sie atmete, so tief es ging, und wimmerte vor sich hin. Es war noch immer zu stumpf. Sie warf einen Blick auf die Zange, deren Spitzen sie abgeschliffen hatte, als sie ihre Botschaft in den Beton ritzte.
    »Oh nein«, flüsterte sie, »nur einen Tag mehr, dann wäre ich fertig gewesen.« Dann wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und führte das Handgelenk vor den Mund. Vielleicht konnte sie ihre Pulsadern aufbeißen. Sie schnappte nach der Haut, bekam aber nichts zu fassen. Dann drehte sie das Handgelenk, um sie mit den Eckzähnen zu erreichen, aber sie war zu knochig und zu dünn. Der Knochen war im Weg, die Zähne waren nicht spitz genug.
    »Was macht die da drinnen?«, gellte die Stimme der alten Hexe durch die Lautsprecher, als sie das Gesicht an die Scheibe presste. Man sah nur ihre weit aufgerissenen Augen, der Rest von ihr lag im Schatten, von hinten von den grellen Scheinwerfern angestrahlt.
    »Mach die Schleuse ganz auf. Es muss sofort sein«, befahl sie ihrem Sohn.
    Merete sah hinüber zu der Taschenlampe, die neben dem Loch bereitlag, das sie unter den Zapfen der Schleusentür gebohrt hatte. Sie ließ das Nylonstäbchen fallen und kroch auf allen vieren hinüber zur Schleuse, während die Frau dort draußen sie verhöhnte und in ihr alles weinte und um ihr Leben bettelte.
    Als sie die Taschenlampe nahm und in das Loch im Fußboden bohrte, hörte sie durch die Lautsprecheranlage den Mann dort draußen mit den Schleusentüren klappern.
    Es klickte, und der Drehmechanismus setzte ein. Sie starrte mit klopfendem Herzen auf die Schleusentüren. Hielten die Taschenlampe und der Zapfen nicht, dann war sie verloren. Sie stellte sich vor, dass der Druck in ihrem Körper wie eine Granate explodieren würde.
    »Oh bitte, lieber Gott, lass das nicht geschehen«, weinte sie und krabbelte zurück zu den Nylonstäbchen. Hinter ihr knallte der Zapfen gegen die Taschenlampe. Sie drehte sich um und sah, wie die Taschenlampe leicht vibrierte. Dann hörte sie ein Geräusch, wie sie es noch nie gehört hatte. Wie der Zoom einer Kamera, der aktiviert wird. Ein Summen von einem Mechanismus, der ausgelöst wird, gefolgt von einem kräftigen Klopfen an die Schleusentür. Die äußere Schleuse war geöffnet, der gesamte Druck lag jetzt auf der inneren Schleusentür. Nichts als eine Taschenlampe stand zwischen ihr und dem entsetzlichsten Tod, den sie sich vorzustellen vermochte. Aber die Taschenlampe bewegte sich nicht mehr. Vielleicht hatte sich die Tür um ein

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