Erbarmen
Hundertstel Millimeter bewegt, denn das zischende Geräusch von Luft, die sich aus der Kammer presste, stieg an bis zu einem heulenden Pfeifton.
Schon nach wenigen Sekunden merkte sie es an ihrem Körper.
Mit einem Mal spürte sie den Pulsschlag im Ohr, registrierte sie einen schwachen Druck in der Stirnhöhle, wie bei einer Erkältung, die sich festgesetzt hat.
»Mutter, sie hat die Tür blockiert!«, schrie der Mann. »Dann mach sie zu und gleich noch mal auf, du Idiot«, schrie die zurück.
Einen Moment lang nahm die Stärke des Heultons ab. Dann hörte sie, wie der Mechanismus erneut in Gang gesetzt wurde, und gleich stieg auch der Ton wieder an.
Sie versuchten mehrmals vergeblich, die innerste Schleusentür zu öffnen. Unterdessen feilte sie an ihrem Nylonstäbchen. »Wir müssen sie auf der Stelle töten. Sie muss hier weg, hast du das begriffen«, schrie die Teufelin dort draußen. »Lauf los und hol den Vorschlaghammer, der steht hinterm Haus.«
Merete starrte hoch zu den Scheiben. Sie waren in den letzten Jahren für sie gleichzeitig Gefängnisgitter und Schutz gegen die Ungeheuer dort draußen gewesen. Zerschlugen sie das Glas, wäre sie binnen kurzem tot. Der Druck wäre in Sekundenschnelle ausgeglichen. Vielleicht würde sie nicht einmal mehr mitbekommen, wie sie diese Welt verließ. Aber darauf konnte sie nicht hoffen.
Sie legte die Hände auf den Schoß und führte das Nylonmesser zum linken Handgelenk. Diese Ader hatte sie nun abertausendmal betrachtet. Dorthin musste sie stechen. Sie lag so fein und dunkel und offen vor ihr hinter der zarten dünnen Haut.
Merete schloss die Augen, ballte die Hand zur Faust und drückte zu. Der Druck auf der Ader fühlte sich nicht richtig an. Es tat zwar weh, aber die Haut gab nicht nach. Sie sah sich den Abdruck an, den das Nylonstäbchen hinterlassen hatte. Er war lang und breit und wirkte tief, aber er war es nicht. Es blutete nicht einmal. Das Nylonmesser war einfach nicht scharf genug.
Sie warf sich auf die Seite und hob das nadelspitze Nylonstäbchen vom Fußboden auf. Sie riss die Augen auf, um genau abzuschätzen, wo die Haut um die Ader am dünnsten zu sein schien. Dann drückte sie zu. Es tat nicht so weh, wie sie befürchtet hatte, und das Blut färbte die Spitze sofort rot. Ein allumfassendes Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit erfasste sie. Seelenruhig sah sie zu, wie das Blut austrat.
»Du blöde Kuh, du hast dich gestochen«, schrie die Frau und hämmerte mit der Faust gegen das Bullauge. Aber Merete schloss sie einfach aus ihrem Bewusstsein aus und fühlte nichts. Sie legte sich still auf den Boden, schob sich ihr langes blondes Haar unter den Kopf und starrte an die Decke zu der letzten Neonröhre, die noch funktionierte.
»Es tut mir leid, Uffe«, flüsterte sie. »Aber ich konnte nicht warten.« Sie lächelte dem Bild ihres Bruders zu, das im Raum schwebte, und er lächelte zurück.
Der erste Schlag mit dem Vorschlaghammer zerstörte krachend das Traumbild. Sie sah hinüber zum Spiegelglas, das bei jedem Schlag vibrierte. Es wurde dadurch gewissermaßen undurchsichtig, aber mehr auch nicht. Auf jeden Schlag folgte ein erschöpftes Aufstöhnen. Dann versuchte der Mann, das andere Bullauge mit den Schlägen zu zerstören, aber das gab ebenfalls nicht nach. Seine dünnen Arme waren es nicht gewöhnt, mit einem solchen Gewicht umzugehen, das merkte man. Die Pausen zwischen den Schlägen wurden immer länger.
Sie lächelte und blickte auf ihren Körper, der so entspannt auf dem Fußboden lag. So hatte Merete Lynggaard also ausgesehen, als sie starb. Nicht mehr lange, und ihr Körper wäre Fressen für die Hunde. Aber der Gedanke machte ihr nichts aus. Zu dem Zeitpunkt wäre ihre Seele längst befreit. Neue Zeiten warteten auf sie. Sie hatte auf Erden die Hölle erlebt, und sie hatte die meiste Zeit ihres Lebens mit Trauern zugebracht. Menschen hatten ihretwegen gelitten. Schlimmer konnte es im nächsten Leben nicht werden - falls es eines gab. Und falls nicht, was hatte sie dann zu befürchten?
Sie ließ den Blick an ihrem Körper entlangwandern bis zu dem Fleck auf dem Fußboden. Er war schwarzrot, aber kaum größer als eine Handfläche. Sie drehte ihr Handgelenk um und betrachtete die Stichwunde. Die Blutung hatte aufgehört. Ein paar letzte Tropfen quollen heraus und geronnen langsam.
Mittlerweile waren die Hammerschläge dort draußen verstummt, sodass sie nur noch die Luft hörte, die durch die Schleusentüren strömte, und das
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