Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
eintraf, doch während dieser Zeit wurde die Haustür nicht geöffnet. Entweder war Kyra allein, was am besten wäre, oder ihre Verfolger hatten sich aufgeteilt und das Gebäude umstellt. Sie könnten Verstärkung gerufen haben, doch die würde wahrscheinlich länger brauchen, als Kyra ihnen einzuräumen plante.
Kyra betrat den Fahrstuhl und überlegte, wo sich die versteckten Kameras befinden könnten.
Der Blick auf die Verbotene Stadt war eine der Annehmlichkeiten, die den Preis, den Pioneer seit mehr als zwanzig Jahren bezahlte, rechtfertigten. In Richtung Süden sah er den Qin’an und den Qianqinggong , die Hallen des Kaiserlichen Friedens und der Himmlischen Reinheit, die sich über der Mauer an der Nordseite erhoben. Dahinter, weiter im Süden, lag der Platz des Himmlischen Friedens, den er von seinem Schlafzimmer aus allerdings nicht sehen konnte.
Die Staatssicherheit wusste über ihn Bescheid. Daran bestand kein Zweifel. Man hatte ihn nur nicht verhaftet und erschossen, weil sie das Netzwerk aufdecken wollte, zu dem er gehörte. Er hatte der CIA ein Zeichen gegeben, und erst hinterher war ihm bewusst geworden, dass genau dies der falsche Schachzug gewesen sein könnte. Jetzt wusste die CIA , dass er enttarnt worden war, damit würde es keine heimlichen Treffen mehr geben, und vielleicht würde die CIA ihm nicht einmal helfen. Er würde noch einige Zeit für die Partei arbeiten, bis die Staatssicherheit beschließen würde, dass es nichts brachte, ihn weiterhin zu beobachten. Dann würde man ihn eines Nachts aus dem Bett zerren und in irgendeinem dreckigen Keller erschießen. Er wusste nicht, wie viele Tage ihm noch blieben, da jetzt der Rest seines Lebens von der Geduld irgendeines Offiziers der Staatssicherheit abhing.
In der Wohnung über ihm war es am Abend zuvor ziemlich unruhig gewesen, und jemand hatte heftig auf den Boden geklopft. Vielleicht hatte die Staatssicherheit die Wohnung übernommen. Sie könnte Glasfaserkameras in die Decke eingebaut haben, während er zum Abendessen ausgegangen war. Am liebsten hätte er sofort nach den Kameras gesucht, doch das wäre sinnlos gewesen. Wenn die Staatssicherheit ihn beobachten wollte, ließe sie sich nicht aufhalten. Sie könnte jederzeit seine Wohnung betreten, sobald er draußen war. Jeder, dem er im Flur begegnete, könnte ein Offizier der Staatssicherheit sein und ihm schon bald die Pistole an den Kopf halten. Jede Wohnung im Gebäude könnte ein Beobachtungsposten der Staatssicherheit sein, genauso wie jede Wohnung in allen Gebäuden, die er von seinen Fenstern aus sah. Seit Jahren hatte er sich allein gefühlt, doch jetzt litt er in seiner Wohnung unter einer mörderischen Feindseligkeit.
Dennoch empfand er eine seltsame Ruhe. Er überlegte, ob der unbekannte Gott bei ihm war und seiner Seele Frieden einhauchte. Irgendwie konnte er sich nicht dazu durchringen, daran zu glauben. Könnte Gott einen Verräter lieben? Wahrscheinlich. Mit Sicherheit könnte ein liebender Gott die Partei nicht lieben, aber dafür jemanden, der gegen sie kämpfte. Vielleicht erwartete ihn nach dem Tod eine Belohnung statt die von der Partei versprochene Vergessenheit. Doch alles war verlockender als das Leben, das er im Moment führte. Selbstmord war ihm in den Sinn gekommen, doch damit würde er sich nur dem Feind ergeben. Mehr als die Hälfte seines Lebens hatte er gegen die Partei gekämpft, und so leicht konnte er jetzt nicht aufgeben. Nein, wenn er heute sterben würde, müsste ihn schon die Partei töten. Wenn er ihr auf keine andere Weise mehr schaden konnte, müsste sie wenigstens die billige Kugel bezahlen, die man ihm in den Hinterkopf jagen würde.
Jemand klopfte an die Tür. Pioneer drehte sich um, ohne sich vom Tisch zu erheben. Nach einer halben Minute wurde erneut geklopft.
Sie waren gekommen. Der zuständige Offizier der Staatssicherheit war kein geduldiger Mensch.
Pioneer schob seinen halb leer gegessenen Teller mit Lammbraten über den Tisch, wischte sich den Mund ab und erhob sich. Er umklammerte den Türknauf, bis seine Knöchel knackten, und öffnete die Tür, um seiner nur noch kurzen Zukunft ins Gesicht zu blicken und zu spucken.
» Jian-Min!«
Die blonde Frau trat auf ihn zu. Nur das Lächeln auf ihrem Gesicht hielt ihn davon ab, panisch zurückzuweichen, als er eine Amerikanerin in den Armen hielt, die er nicht kannte. Sie sprach auf Chinesisch mit einem Akzent auf ihn ein, bei dem er sich fragte, ob sie ihre eigenen Worte verstand oder nur
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