Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
Moment genauso stark, wie Pioneer es tat. Und dann war ihr alles klar.
Sie sah ihn an. Sie müssen mich töten, um mich davon abzuhalten, dich hier rauszuholen , dachte Kyra. Sie hoffte, dass er ihren Gedanken verstand.
Pioneer beäugte die junge Frau. Sie lächelte noch immer, auch wenn es nur Fassade war. Ihr harter Blick vermittelte ihm eine andere Botschaft, und in dem Moment, in dem er ihr in die Augen sah, vertraute er ihr. Sie sprach nicht Chinesisch, was ihn eine Sekunde lang verblüffte. Warum schickten sie jemanden, der seine Sprache nicht beherrschte? Irgendetwas stimmte nicht. Doch diese Frau war seinetwegen gekommen, und das bedeutete, sie war mutig. Mehr konnte er nicht erwarten, weil seine Möglichkeiten im Moment begrenzt waren.
»Ich erinnere mich. Ich hole meinen Mantel. Draußen ist es sehr kalt«, sagte er auf Chinesisch. Er bemerkte, dass sie sich anspannte, als er zu sprechen begann. Sie verstand mit Sicherheit kein Wort, entspannte sich aber wieder, als er sich umdrehte, zum Schrank ging und einen dicken Mantel herausnahm. Einen Moment lang ließ er den Blick durch seine Wohnung gleiten. Sie war nie schön gewesen, hatte ihm aber Geborgenheit geboten. Das Geschirr war nicht abgewaschen, auf dem Tisch stand noch sein Essen. Seine Bücher waren ordentlich im Regal neben einem kleinen Fernseher gestapelt, wo er die meisten Abende von der Partei genehmigte ausländische Filme angesehen hatte. Das Bett war nicht gemacht, und seine schmutzigen Kleider würden so lange im Wäschekorb liegen, bis die Staatssicherheit sie mitnehmen, durchsuchen und verbrennen würde. Zumindest sein Schreibtisch war hübsch. Sein Vater hatte ihn für seine Mutter aus hellbrauner chinesischer Ulme gebaut, dazu einen passenden Stuhl. Er war eines der wenigen Geschenke, die seine Eltern ihm hatten überlassen können. An diesem Schreibtisch hatte er oft gesessen und auf seinem Laptop Berichte für die CIA getippt. In dieser Wohnung gab es nicht vieles, was er vermissen würde, aber der Schreibtisch würde ihm fehlen. Er hoffte, ein Offizier der Staatssicherheit würde die gute Handarbeit zu schätzen wissen und ihn mitnehmen. Oder sollte er doch lieber verbrannt werden? Nein, der Schreibtisch sollte erhalten bleiben, egal, wer ihn besitzen würde. Pioneer hatte seit Jahren gewusst, dass er ihn im Fall einer Exfiltration nicht mit in die Vereinigten Staaten nehmen könnte. Er war zu groß, und die Zeit reichte nicht, ihn einzupacken und in die Vereinigten Staaten zu schicken.
Die CIA hatte nicht bestätigt, dass sie ihn rausholen würde, deswegen hatte er nichts gepackt. Er schnappte sich rasch einen Umschlag mit ein paar Fotos seiner Eltern und steckte ihn in seine Manteltasche. Seine Eltern waren tot, und zum ersten Mal war er dankbar wegen der Ein-Kind-Politik der Partei. Er hatte keine Verwandten, also brauchte er niemanden zurücklassen. Keine Frau, keine Kinder, keine Geliebte, nicht einmal ein Haustier. Er hatte ein paar Freunde in der Arbeit, die sich am nächsten Tag fragen würden, wo er blieb. Die Partei würde ihnen auf keinen Fall die Wahrheit über sein Verschwinden erzählen. Vielleicht würde ihnen die Staatssicherheit eine Lügengeschichte auftischen und behaupten, er sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Er hoffte, sie würden keinen Unfall inszenieren und jemanden töten, nur um ihre Lüge zu untermauern.
Er zog seinen Mantel an und drehte eine letzte Runde durch seine Wohnung. Danke , dachte er. Plötzlich war er zum sentimentalen Trottel geworden. Warum nicht? Ein Mann, der in einem solchen Moment nicht sentimental war, verdiente es nicht zu leben.
Er sah die junge Amerikanerin an und lächelte. »Ich bin fertig. Geh voraus«, sagte er und zeigte gleichzeitig zur Tür.
Kyra nahm ihn bei der Hand und trat mit ihm auf den Flur hinaus. Er drehte sich um, schloss ab und ging gemeinsam mit Kyra Richtung Treppe.
Noch nie hatte Kyra ein so schmutziges Treppenhaus gesehen. Sie weigerte sich, das Geländer zu berühren, und hoffte, ihren Ekel im Zaum halten zu können. Den Wänden sah sie nicht an, ob sie jemals gestrichen worden waren. Jahrelanger Schmutz überzog die Stufen, und bei dem von unten heraufsteigenden Gestank wurde ihr übel.
Kyra hielt Pioneers Hand und rannte immer zwei Stufen auf einmal und so schnell die Treppe hinunter, wie sie für sicher hielt. Die Hälfte hatten sie bereits zurückgelegt, als sie von oben mehrere Personen auf den Metallstufen hörte. Sie brauchte aber einen
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