Erbarmungslos: Thriller (German Edition)

auswendig gelernte Sätze aufsagte wie eine gute ausländische Schauspielerin.
    Pioneer hatte sie noch nie zuvor gesehen, daher würde die Staatssicherheit nie herausfinden, welches Verhältnis sie beide miteinander hatten. Mit Sicherheit würde die Staatssicherheit in Alarmbereitschaft sein. Wenn diese Frau von der CIA war und ihn aus China exfiltrieren wollte, hätten sie nicht viel Zeit.
    »Ich habe dich so vermisst. Es ist lange her!«, sagte sie in ihrem schlechten Chinesisch. Ihre Betonung klang wie die eines Roboters.
    »Ja«, antwortete er nur. Es war am besten, nur knappe Antworten zu geben. Wenn diese Frau kein Chinesisch sprach, würde sie keine komplexen Sätze bilden können. Ihre Antworten ergäben auch bei einfachen Fragen keinen Sinn, und das würde mit Sicherheit die Staatssicherheit auf den Plan rufen.
    »Ich bin so glücklich, dass du heute Abend frei hast. Ich habe dir versprochen, dich zum Abendessen im Yueming Lou einzuladen, wenn du mir die Verbotene Stadt zeigst. Erinnerst du dich?«
    Pioneer trat einen Schritt zurück. Yueming Lou . Das hatte er beinahe vergessen, doch kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, war alles wieder da.
    Yueming Lou , dachte er.
    Das Yueming Lou war als ehemalige Kirche im Xicheng-Viertel in ein dreistöckiges Restaurant umgewandelt worden und bei den westlichen Touristen sehr beliebt. Das Essen war gut, wenn auch nicht hervorragend, traditionell chinesisch, und die Preise waren angemessen. Pioneer gefiel es vor allem wegen des Ausblicks auf der Terrasse im dritten Stock auf Pekings Seen im Norden und auf die hutong , die alten engen Gassen, die sich früher wie ein Spinnennetz über Peking gezogen hatten, bevor die Partei die Stadt nach der Revolution umgebaut hatte. Pioneer hatte dort schon mehrmals gegessen, mindestens ein Mal im Jahr, und zwar auf Befehl, den ihm sein Führungsoffizier mit Beginn seines dritten Jahres des Verrats gegeben hatte. Die Bitte damals hatte ihn zunächst überrascht. Sobald er im fünften Jahr seiner Mitarbeit das Vertrauen seines Führungsoffiziers gewonnen hatte, wurde ihm der Grund mitgeteilt. Nicht jeder Spion erhielt das Versprechen, in die Vereinigten Staaten exfiltriert zu werden. Viele legten auch keinen Wert darauf. Die Heimat zu verlassen war nicht einfach, auch nicht für Verräter und vor allem nicht für solche, die es aus ideologischen Gründen und nicht des Geldes wegen taten. Zudem war die CIA nur bei wenigen, die exfiltriert werden wollten, auch bereit, wie bei Pioneer das entsprechende Risiko auf sich zu nehmen.
    Clark Barron – Pioneer kannte ihn nicht unter diesem Namen – war der Führungsoffizier gewesen, der ihm dieses Versprechen gegeben hatte. Pioneer hatte ihn nach den Einzelheiten des Plans gefragt, aber keine Antwort erhalten. Es sei besser, die Einzelheiten nicht zu wissen. Er musste nur das Signal kennen, mit dem angezeigt wurde, dass der Plan angelaufen war. Im richtigen Augenblick, hatte Barron erklärt, würde ihm der Führungsoffizier ein Codewort nennen. »Was auch immer Sie gerade tun, lassen Sie alles stehen und liegen. Gehen Sie weg. Wir geben Ihnen vorher Bescheid, wenn wir können, damit Sie ein paar Sachen packen können, höchstens eine Tasche. Aber wenn Sie diesen Satz hören, gehen Sie sofort mit der Kontaktperson los. Was diese Kontaktperson auch immer zu Ihnen sagt, folgen Sie ihren Anweisungen, dann wird man Sie rausholen.« Was Barron mit seinen Worten nicht gesagt, aber vorausgesetzt hatte: Pioneer würde in diesem Fall nie wieder nach China zurückkehren.
    Der Codesatz lautete Abendessen im Yueming Lou . Diese Frau war hier, um Barrons Versprechen einzulösen.
    Als Pioneer einen Schritt zurücktrat, befürchtete Kyra, er könnte zusammenbrechen.
    Der Mann sah sie an. Sein Gesicht erstarrte, doch einen kurzen Moment lang hatte sie seine Gefühle erkennen können, seine wahren Gefühle, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte.
    Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Kyra unverhohlene Verbitterung gesehen, einen Hass, der so stark war, dass sie sich die Ursache nicht vorstellen konnte.
    Dann sah er sie wieder an, und sie wusste, dass nicht sie, Kyra, das Ziel war. Sie waren das Ziel seiner Wut, wer auch immer das sein mochte, sie , die ihn angetrieben hatten, dieses Leben zu führen. Sie waren der Grund für diesen Augenblick, in dem es für ihn darum ging, seine Heimat zu verlassen oder zu sterben. Auch wenn Kyra Stryker keine genaue Ahnung hatte, wer sie waren, hasste sie sie in diesem