Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
hundertachtzigtausend Soldaten in die Stadt einmarschieren.
Die Studenten errichteten Barrikaden, um den Autoverkehr rund um den Platz zu stoppen. Wo sie keine Barrikaden errichten konnten, legten sie sich auf die Straße. Die Volksbefreiungsarmee antwortete mit Tränengas. Pioneer erinnerte sich noch an das Stechen in seinen Augen und in seinem Mund wie von tausend Nadeln, als eine Kartätsche neben ihm gelandet war. Er hatte sie sich geschnappt und in Richtung der Soldaten zurückgeschleudert, dabei allerdings eine volle Dosis von dem Gas eingeatmet. Anschließend hatte er sein Frühstück auf die Straße gewürgt. Am liebsten hätte er sich die brennenden Augen ausgekratzt, und das Stechen in seiner Lunge machte das Atmen unerträglich.
Seine neuen Freunde stützten ihn. Einer, Jianzhu, studierte wie er an der Qinghua-Universität. Er war im höheren Semester an der journalistischen Fakultät und dachte, Tatsachen könnten die Welt verändern. Ein anderer, Changfu, hatte bei Foxconn am Fließband malocht, aber seine Arbeitsstelle wegen der Revolution aufgegeben. In einem besseren China werde es bessere Arbeit geben, sagte er. Er hatte kaum Bildung genossen und kein Geld, doch sein Glaube an die Zukunft war ansteckend. Und schließlich Xishi, ein hübsches Mädchen und zwei Jahre jünger als er, war eine begabte Kalligrafin, die ihm während der langweiligen Sitzblockaden auf dem Platz ein paar Dinge beibrachte. Sie bildeten eine seltsame kleine Gruppe. Pioneer wusste, sie hätten sich ohne die Proteste nie kennengelernt, und der Druck, unter dem sie standen, schweißte sie zusammen wie Soldaten auf dem Schlachtfeld.
Die Pattsituation hielt. Das Politbüro und die Studenten stritten jeweils über den nächsten Schritt. Die Bedrohung durch das Militär schien nachzulassen, und die langen Tage sorgten dafür, dass die Zahl der Demonstranten schwand. Schließlich beschlossen sie, dass es Zeit war, nach Hause zu gehen, und legten den 20. Juni als Ende ihrer Proteste fest.
Die Ironie an dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens war, dass die Partei beschloss, die bereits abklingenden Proteste mit Gewalt niederzuschlagen.
Mao sagte einmal, die politische Macht fließe aus dem Waffenlauf, und die Partei halte diese Waffe in der Hand. Am 1. Juni erklärte die Partei, die Studenten seien Terroristen, die sich in einer Gegenrevolution gegen den Staat erhoben, und erteilte der Volksbefreiungsarmee und der bewaffneten Volkspolizei den Befehl, den Platz des Himmlischen Friedens um jeden Preis zu räumen.
Soldaten zogen durch Peking zum Platz, die Einwohner von Peking strömten auf die Straßen und warfen ihnen Steine und Geröll entgegen. Die 27. und 38. Armee kämpften sich bis zum Platz durch, verhafteten und töteten auf dem Weg dorthin die Menschen, die sich ihnen in den Weg stellten. Die Massen kochten, zerrten Soldaten in ihre Mitte und zerfetzten sie. Studenten warfen Molotowcocktails, Fahrzeuge der Volksbefreiungsarmee brannten auf den Straßen, erfüllten die Luft mit dem Rauch und dem Gestank brennender Reifen, doch angezündete Wodkaflaschen können sich gegen Maschinengewehre kaum zur Wehr setzen. Die Soldaten richteten ihre Waffen auf die Menge und drückten unaufhörlich den Abzug.
Später hörte Pioneer, dass die Truppen der Volksbefreiungsarmee auch auf andere militärische Einheiten geschossen hatten, die ihnen über den Weg gelaufen waren. Angesichts Zehntausender Menschen, die in alle Richtungen flohen, konnten weder die Studentenführer noch die Befehlshaber der Armee für Ordnung sorgen. Die Menschenschlacht wütete drei Tage lang. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Menschen starben. Hatte die Partei je die Opfer gezählt, hatte sie das Ergebnis nie der Öffentlichkeit bekannt gegeben, und Pioneer hatte sie auch nie in den privaten Aufzeichnungen gefunden.
Zu seiner endlosen Schande war Pioneer vor dem Chaos geflohen, hatte aber nie Trost in dem Gedanken gefunden, dass Tausende andere dasselbe getan hatten.
Eine Kugel flog nahe an seinem Kopf vorbei und verursachte ein glitschiges Geräusch, als sie Xishis weichen Körper durchdrang. Die Kugel durchtrennte ihre Aorta, und ihr Blut spritzte auf das Kopfsteinpflaster. Eine zweite Kugel traf Jianzhus junges Gesicht. Der Anblick des Blutes würde Pioneer in den mehr als zwei Jahrzehnten seit diesem Ereignis mindestens ein Jahr Schlaf kosten. Changfu, den älteren Mann, sah er das letzte Mal, als dieser auf die Soldaten der
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