Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
wahren Verräter des Landes, das sie liebten.
Eine politische Revolution ist wie ein lebendiges Tier, gefangen in seiner Wut und zumeist genährt von Blut, dachte er. Ganz früh in seinem Leben gibt es einen Moment, in dem die Eltern entscheiden müssen, was für ein Tier ihr Kind werden soll. Einige dürfen frei herumlaufen und werden zu Räubern, die nur durch aufstrebende Tyrannen getötet werden können. Andere sind gezwungen, loyale Wächter zu werden, die das Leben und die Freiheit ihrer Kinder schützen, bis diese sich selbst beschützen können. Washington, Lenin, Mao, Gandhi, Castro und Khomeni zogen ihre eigenen Kinder heran. Diese Revolutionen waren nicht anders als alle Dinge in der Natur: Sie sahen aus und benahmen sich wie ihre Eltern.
Pioneer hatte mitangesehen, wie die Zweite Chinesische Revolution von ihren Großeltern am 4. Juni 1989 auf den Straßen rund um den Tiananmen-Platz, den Platz des Himmlischen Friedens, getötet wurde.
Pioneer war damals Student gewesen. Im Frühjahr 1989 bekam der Eiserne Vorhang Löcher, rostete von innen heraus durch Korruption und ein halbes Jahrhundert Unterdrückung. Die Sowjetunion hatte den Warschauer Pakt durch Gewalt errichtet und musste mitansehen, wie ihr Werk an den politischen Schweißstellen und wirtschaftlichen Schrauben zerbrach. Die chinesischen Führer in Zhongnanhai waren entschlossen, die Fehler der Russen nicht zu wiederholen.
Die Studenten waren gekommen, weil sie um Hu Yaohbang trauern wollten, einen Reformer, den die Partei zwei Jahre vor seinem Tod aus der Partei ausgeschlossen hatte. Am Vorabend der Beerdigung im April kamen hunderttausend Menschen auf den Platz, viele davon kehrten nicht nach Hause zurück. Als Gorbatschow im Mai Peking besuchte, um über Glasnost und Perestroika zu diskutieren, sahen die Studentenführer, die sich nach Demokratie sehnten, darin eine einzigartige Gelegenheit, um den Parteiführern ihre Wünsche vorzutragen. Deng Xiaoping wollte der Welt einen Gipfel präsentieren, bei dem die großen kommunistischen Mächte als geschlossene Einheit auftraten. Er öffnete Peking für die US-Medien, die in Scharen mit ihren Satellitenschüsseln und Mikrowellentranspondern einfielen. Das war ein Fehler. Die Studentenführer begannen noch vor Gorbatschows Ankunft mit einem Hungerstreik. Sie begaben sich auf den Platz des Himmlischen Friedens, und noch vor Ende des Tages war die Zahl der Streikenden auf über dreitausend angewachsen. Innerhalb weniger Tage drängten sich mehr als hundertfünfzigtausend Menschen auf dem Platz, einige, um zu protestieren, andere als Schaulustige. Doch selbst damit bewiesen sie noch Mut.
Pioneer gehörte anfangs zu den Schaulustigen, nicht zu den wahren Gläubigen. Zuerst kehrte er jeden Abend nach Hause zurück in sein weiches Bett, kam aber jeden Morgen wieder auf den Platz. Je mehr er sah und hörte, desto mehr glaubte er. Am Ende schlief er auf dem Boden neben den anderen, rief während der Reden mit den anderen im Chor und fragte sich, ob er in der Bewegung zum Führer aufsteigen könnte. Ohne Widerstand seitens der Regierung war es für ihn leicht, sich für den neuen Glauben zu öffnen.
So ging es wochenlang weiter, während das Politbüro langsam nervös wurde. Ihre Führer erkannten eine Revolution, wenn sie im Entstehen begriffen war. Viele von ihnen erinnerten sich an Maos Revolution, viele hatten ihr zum Ausbruch verholfen. Wenn der Kommunismus ihnen eine Regel in ihre alten korrupten Köpfe gehämmert hatte, dann die, dass Revolutionen unvermeidbar waren, wenn die Massen von der Bourgeoisie unterdrückt wurden, zu der sich die Parteiführer entwickelt hatten. Jetzt verloren sie unter den Augen ihres eigenen Landes und denen der ganzen Welt die Kontrolle über alles. Auch in anderen Städten, weit entfernt von Peking, wurde protestiert, und es schien, als stünde die gesamte Welt hinter den Studenten. Während der Politbürotreffen wurde nur noch geschimpft und Gift versprüht.
Die Menge auf dem Platz des Himmlischen Friedens wuchs auf über eine Million Menschen an.
Die Partei rief in Peking das Kriegsrecht aus. Die Proteste in anderen Städten waren kleiner und leicht zu handhaben, doch die Massen auf dem Platz des Himmlischen Friedens weigerten sich abzuziehen. Journalisten wurden vom Platz vertrieben und gezwungen, ihre Übertragungen einzustellen. Die Studenten wurden angewiesen, den Platz zu räumen. Die Volksbefreiungsarmee ließ das Militär mit mehr als
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