Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
auch die Russen, nur aus Prinzip.«
»Sie glauben, es geht um Pioneer?«, fragte Barron.
Mitchell runzelte die Stirn. »Das lässt sich nicht sagen, ohne in Kontakt zu treten. Eine Zwickmühle. Wenn man sich am dringendsten mit einem angeworbenen Spion treffen muss, ist man am wenigsten dazu in der Lage. Wir werden sehen, ob er auf den nächsten toten Briefkasten reagiert. Wenn nicht, suchen wir nach einem Lebenszeichen.«
»Einverstanden«, sagte Barron. »Gehen Sie aber kein unvernünftiges Risiko ein.«
»Tue ich doch nie. Ich rufe Sie am Morgen an.« Mitchell legte den Hörer auf und machte es sich in dem Ledersessel gemütlich, um seine Taktik zu überdenken. Sie wollen uns niedermachen , dachte er. Seine Leute hatten nichts getan, um die örtlichen Sicherheitsbehörden zu provozieren. Die Straßen waren ruhig. Die Bevölkerung war ruhelos wegen der Ereignisse in Taiwan, aber sie ließ ihre Wut nicht an den Westlern aus. Peking war in letzter Zeit immer gefährlicher geworden, aber nicht so, dass man es hier nicht mehr hätte aushalten können. Dennoch hatte das MSS seine Taktik geändert, weshalb Mitchell die Lage neu bewerten musste. Die Sicherheitsdienste hatten angefangen, seine Leute körperlich anzugreifen, noch bevor die Taiwaner ihre Razzien durchgeführt hatten. Vielleicht wusste das MSS schon vorher davon? , überlegte er. Wenn ja, wieso zog es seine Leute in Taipeh nicht schon vor den Verhaftungen ab? Wenn ja, wieso werden Westler in Peking belästigt? Er schüttelte den Kopf, um ihn von den sinnlosen Gedanken zu befreien. Zu diesem Rätsel gab es keine einfache Antwort, und er wusste, ihm fehlten die Informationen, um es lösen zu können.
Aber du verdienst doch dein Geld damit, an Informationen zu gelangen , überlegte er.
Ihm blieb keine andere Wahl, als es mit dem toten Briefkasten mit Pioneer zu versuchen, doch dazu würde er andere, weniger wichtige Operationen aufschieben müssen. Das MSS würde nicht zögern, einen US-Führungsoffizier zu verhaften. Zwei von ihnen hatten sie während des Kalten Kriegs fast zwanzig Jahre eingesperrt gehabt. Einen hübschen, jungen Amerikaner oder, besser noch, eine hübsche junge Amerikanerin in Gewahrsam zu nehmen gäbe den Chinesen einen guten Verhandlungsspielraum, und die Chinesen wussten, wie sich Verhandlungen in die Länge ziehen ließen.
Für die im Inland ansässigen Spione, die für eine ausländische Macht arbeiteten, sah die Sache anders aus. Wegen Spionage verhaftete chinesische Staatsbürger wurden natürlich erschossen, und es war keine Legende, dass die Familie die Rechnung für die Kugel präsentiert bekam. Die Prozesse waren immer kurz und fanden immer unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt, und es wurde nie verhandelt.
Vierter Tag
Mittwoch
Peking, China
An diesem Winterabend in Peking war es wärmer als normal, zehn Grad plus, weswegen sich eine Menge Touristen und Liebespaare im Shichahai-Viertel nördlich von Beihai herumtrieben, wo sich die Bars und Seen ballten. Pioneer konnte dies nur recht sein. Der Trubel würde den Überwachungsteams ordentlich zusetzen. Wenn das MSS ihn verfolgte, würde es nach ungewöhnlichen Aktionen Ausschau halten, was problematisch werden könnte, da die Menge der ausländischen Besucher stetig anwuchs. Aus der Sicht der Chinesen legten sie immer ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag und trieben Sicherheitsbeamte damit in den Wahnsinn. Sie machten Fotos von Regierungsgebäuden, unterhielten sich mit Soldaten der Volksbefreiungsarmee und tauschten Uniformteile mit ihnen oder gingen wenig besuchte Seitenstraßen und Gassen abseits der üblichen Touristenmeilen entlang. An diesem Ort musste der MSS alles ignorieren, was gewöhnlich erschien, und Pioneer hatte sich nie der Illusion hingegeben, anders als gewöhnlich auszusehen. Dieser Segen der Natur unterstützte ihn in seinem wahren Beruf. So setzte er sich auf seine Parkbank, den Blick aufs Wasser gerichtet, und langweilte jeden, der ihn beobachtete. Seine Operation für diesen Abend war beendet. Jetzt gab es für sie nichts mehr zu sehen, und für Pioneer war es immer leicht, sich in seinen eigenen Gedanken zu verlieren.
An manchen Abenden wünschte er sich, geschnappt zu werden. Es war eine üble Angelegenheit, aus ideologischen Gründen als Verräter gegen sein eigenes Land zu arbeiten. Solche Menschen gab es in jedem Land, vermutete er, und alle verfolgten ein und denselben Gedanken: Sie führten ihre eigene private Revolution gegen die
Weitere Kostenlose Bücher