Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
zu stören.
Das kleine Geschäft unterschied sich nicht sehr von den zahlreichen Läden, in denen er in New York eingekauft hatte. Frische Esswaren lagen auf offenen Ständen, verpackte auf Regalen, gekochte Speisen wurden von einem langen Tresen aus serviert. Mitchell ging zwischen Regal und Tresen entlang nach hinten. Mehrere Männer in zerknitterten Anzügen saßen am Tresen auf Hockern oder an den runden Tischen beim Essen, oder sie lasen Zeitung. Mitchell konnte die chinesischen Schriftzeichen auf der Speisekarte, die an einem Deckenbalken hing, nicht lesen, doch er wusste auswendig, was es in diesem Laden zu essen gab und was es kostete.
Mitchell hatte alles getan, um sich mit Rusi, dem Koch, anzufreunden, aber nicht aus beruflichen Gründen. Die Kochkünste des alten Mannes waren es wert, in diese baufällige Hütte zum Essen zu kommen. Rusi war zwar zum Koch ausgebildet, hatte aber auf seine Karriere verzichtet, um diesen Laden zu führen, der in dritter Generation in der Hand seiner Familie war, und um den Männern am Tresen, seine Freunde aus Kindheitstagen, kostenlos zu essen zu geben, weil sie arm waren. Politik interessierte ihn nicht, und er liebte Amerikaner. Er hatte Mitchell im Austausch für die Englischlektionen Mahjong beigebracht, ein altes chinesisches Brettspiel. Rusi war ihm haushoch überlegen und weigerte sich, unter seinem Niveau zu spielen, wusste aber seinen jüngeren Gegner zu schätzen, der sich bescheiden in seine Unterlegenheit fügte. Es hatte nicht lange gedauert, bis Mitchell besser spielte. Rusi würde stolz sein, wenn er eines Tages ein Spiel gegen den Amerikaner verlieren würde.
»Carl, guten Abend. Wie geht es dir?«, begrüßte er ihn mit starkem Akzent, doch Mitchell konnte nur Respekt für diesen Mann empfinden, der mit über siebzig Jahren noch bereit war, Englisch zu lernen.
» Hái h a ˘ o. N ı ˘ ne ?«, erwiderte Mitchell auf Chinesisch. Mir geht es gut. Und dir?
» Hái h a ˘ o. Wirst du heute mit uns zu Abend essen?«
»Leider nicht«, antwortete Mitchell langsam und mit einfachen Worten. Rusi verstand noch immer wenig Englisch. »Ich hätte gerne eine Schüssel von deinem Mapo Dofu zum Mitnehmen, bitte.«
Rusi nickte und hob seine Hand mit ausgestreckten Fingern. »Fünf Minuten. Und du kommst morgen und spielst, oder es wird zehn Minuten dauern.«
Mitchell lächelte und nickte. »Werde ich.« Rusi nickte ebenfalls, ließ den Kopf dabei tief sinken, während er Schwarze-Bohnen-Paste und gehackte Schalotten in seinen Wok warf.
Mitchell ging an den Mahjong-Tischen vorbei zu der winzigen Toilette, die hinter einem vollen Regal stand. Die Toilette war schmutzig und so klein, dass sich ein großer Mensch nicht setzen konnte, ohne mit den Knien gegen die Wand zu stoßen. Zum Glück brannte nur eine schwache Glühbirne. Bei voller Beleuchtung wäre Mitchell mit Sicherheit der Appetit vergangen. Doch der Dreck war nicht Rusis Schuld. Das ganze Gebäude war alt und heruntergekommen. Man konnte es putzen, so viel man wollte, der Boden und die Wände würden nie wieder sauber werden.
Mitchell schloss die Tür und griff hinter den Gasbrenner. Er unterdrückte einen Fluch, weil er nichts fand, und schaltete eine kleine Taschenlampe ein, die er aus seinem Mantel gezogen hatte. Die rote Abdeckung dimmte den Schein der Lampe, auch wenn er nicht befürchtete, dass von außen jemand das Licht unter dem Türspalt bemerken würde. Er richtete den Schein der Lampe auf den Bereich hinter dem Gitter.
Mitchell erstarrte und suchte schließlich mit der Taschenlampe den gesamten Bereich noch einmal ab. Nein, er hatte das Päckchen nicht übersehen, es war keines hier angebracht. Er schaltete die Taschenlampe aus und überlegte.
Pioneer hatte signalisiert, dass er sein Päckchen in diesem toten Briefkasten abgelegt hatte. Das Kreidezeichen an der Mauer in der Gasse war eindeutig gewesen, und Pioneer hätte es nicht angebracht, wenn er nicht seine Hälfte der Operation vollendet hätte. Die Vereinbarung, welchen Ort sie benutzen wollten, war eindeutig gewesen, aber hier war nichts.
Die möglichen Erklärungen waren begrenzt. Die erste war, dass jemand das Päckchen entfernt hatte. Dieser Mensch arbeitete entweder für den chinesischen Geheimdienst oder nicht. Wenn ja, wartete der MSS vielleicht vor der Toilette, um sich Pioneers Agenten zu schnappen. Arbeitete dieser Mensch nicht für die Regierung, standen die Chancen gut, dass er nicht wusste, was er entfernt hatte. Dann
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