Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
Mond schien auch nicht. Und wegen des Lichts an der Trafostation konnte er jenseits des Maschendrahtzauns ohnehin nichts erkennen. Dennoch sah er zur Straße, ob das Geräusch vielleicht von dort stammte. Auf dem Gelände bewegte sich nichts. Er war sich ziemlich sicher, dass er allein war.
Die Explosion ereignete sich fünfzig Meter von James entfernt auf der anderen Seite der Trafostation, weit genug, damit ihn die Geräte ein wenig vor der Druckwelle schützten. Mit Überschallgeschwindigkeit raste die Luft auf ihn zu und verteilte sich, während die Hindernisse der Reihe nach gesprengt wurden. Die verbleibende Druckwelle brachte James’ Trommelfelle zum Platzen, bevor sie ihn selbst mitsamt den sich lösenden Metallteilen der Trafostation gegen den Maschendrahtzaun schleuderte. Seine größeren Knochen brachen, und seine Augen wurden nur verschont, weil er mit dem Rücken zur Explosion gesessen hatte.
Der Zaun wurde in null Komma nichts zerfetzt, und James schlitterte noch sechs Meter weiter über den Boden. Das größte Metallteil verpasste ihn nur knapp, doch viele andere Teile schnitten in seinen Rücken und seine Beine. Chirurgen würden sie mehrere Stunden lang in dem vergeblichen Versuch entfernen, sein Leben zu retten. Die sechs Teile, die seine Lunge durchbohrten, würden ihn umbringen. Zum Glück war er bewusstlos und spürte nicht, wie sein Körper zerfetzt wurde.
Die nachfolgende Hitzewelle ließ die Farbe auf den Schildern an der Trafostation abblättern, wo die Metallkonstruktion der Explosion standgehalten hatte. Die herausragenden Kanten der Masten und der Gehäuse, die dem sich ausdehnenden Krater am nächsten standen, erstrahlten von innen heraus in weißer Glut. Der Feuerball war, als er James erreichte, so weit abgekühlt, dass James kein Feuer mehr fing, doch seine Haut und seine Haare wurden dennoch versengt. Grausamerweise schützte der Feuerball auch sein Leben, weil der geschmolzene Stoff seines Overalls die offenen Wunden an seinem Rücken zuklebte und er deswegen nicht verblutete.
Einen Moment später öffnete James Hsueh seine Augen ein letztes Mal. Er hörte nichts und hatte genug Zeit, um festzustellen, dass der Himmel über der Silhouette von Kinmen völlig dunkel war, bevor ihm der Schmerz für immer das Bewusstsein raubte.
Fünfter Tag
Donnerstag
Zhongnanhai, Peking
Volksrepublik China
Botschafter Aidan Dunne saß mit gekreuzten Beinen an seinem Schreibtisch und wünschte sich wie jeden Tag seit drei Jahren, er könnte das organisierte Gekritzel einer chinesischen Zeitung lesen. Es war absurd, dass sich jemand mit Harvard-Abschluss wie ein Analphabet fühlte. Er hatte unsäglich viel Zeit und Geld in seine Ausbildung gesteckt, und es ärgerte ihn, dass er die Lokalzeitungen nicht lesen konnte. Als er noch ein Kind gewesen war, hatte eine der Schwestern der katholischen Schule in Maryland gesagt, er sei sprachbegabt, und behauptet, es würde für ihn nicht gut ausgehen, wenn er beim Jüngsten Gericht die letzten Fragen nicht in mindestens drei Sprachen einschließlich Latein beantworten könnte. Mit seiner Sprachbegabung hatte die Nonne recht gehabt, doch die Sprachen, die er gelernt hatte, verwendeten das lateinische oder kyrillische Alphabet. Chinesische Schriftzeichen waren unverständlich, und das erniedrigende Gefühl hatte Dunne schließlich zu der Einsicht gebracht, dass er mit seinen fünfundsechzig Jahren keine Lust mehr hatte, sie zu lernen. Er ließ die Zeitung auf den handgeschnitzten Kirschholztisch fallen, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Seine Gastgeber wussten, dass er ihre Sprache nicht beherrschte, aber sie brauchten nicht zu wissen, dass er sich darüber ärgerte.
Dunne hatte als Karrierediplomat mehr als die Hälfte seiner dreißig Jahre Dienstzeit außerhalb der Vereinigten Staaten verbracht, einige davon in sehr unterentwickelten, gottverlassenen Ländern. Sein Lohn dafür war der Posten als Botschafter in Peking, und danach wollte er in den Ruhestand gehen. Sonderbotschafter und Generalbevollmächtigter in der Volksrepublik China war ein geschätzter Posten beim Außenministerium, den gewöhnlich ein Günstling der Regierungspartei des Präsidenten erhielt. Dunnes Ernennung zum Botschafter war für jeden ein Schock gewesen. Doch Präsident Harrison Stuart, genannt »Harry«, brauchte sich in seiner zweiten Amtszeit nicht mehr um die Finanzierung seiner Wahlkampagne zu kümmern und gönnte sich den Luxus, sich seine Leute nach ihren Fähigkeiten
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