Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
wusste nicht, dass die Frau mit der gebrochenen Nase und der Mann am Geländer sowie weitere sechs Menschen in unmittelbarer Nähe ebenfalls zum Staatssicherheitsdienst gehörten. Pioneer half dem Fahrradfahrer dabei aufzustehen und führte ihn in die nächstgelegene Bar, wo es zumindest warm war, bis der Krankenwagen eintreffen würde. Er ließ sich vom Barmann einen Lappen mit Eis geben und ging zu der Frau hinaus, die sich dank der Hilfe ihrer Kollegen bereits aufsetzen konnte. Ihr Mantel war mit Blut verschmiert, und Pioneer fürchtete, sie könnte in Ohnmacht fallen, wenn sie an sich hinunterblicken würde. Vorsichtig bog er ihren Kopf nach hinten, legte den Lappen mit dem Eis auf ihre Nase, half ihr auf die Füße, und führte sie zu ihrem Partner in die Bar.
Als der Krankenwagen eintraf, schienten die Sanitäter das Bein des Fahrradfahrers und schoben ihn auf einer Rolltrage nach draußen. Auch die Frau führten sie zum Krankenwagen. Pioneer sah ihnen hinterher und ging schließlich weiter ins Café. Er bewegte sich wie auf Autopilot, spielte nach außen hin den Ahnungslosen, während sein Gehirn schrie, dass es völlig sinnlos war.
Sie wissen es.
Aber woher? Wann und wo genau war ihm der Fehler unterlaufen, mit dem er sich verraten hatte? Er fand keine Antwort und zwang sich schließlich, nicht mehr daran zu denken. Es war ein Rätsel ohne Lösung. Auch andere Spione waren bereits durch äußerst dumme Fehler enttarnt worden, und sein Fehler musste wirklich dumm gewesen sein, weil er sich absolut nicht vorstellen konnte, wo er ihn begangen hatte. Wahrscheinlich würde er es nie erfahren, auch nicht während der Gerichtsverhandlung. Diese nämlich fand hinter verschlossenen Türen statt, während er in seiner Zelle schmoren würde.
Seine Zeit als Spion war vorbei. Eine einzige Aufgabe war noch zu erledigen, danach würde die einzig verbleibende Frage – wie lange würde er noch zu leben haben? – nicht mehr von ihm zu beantworten sein. Würde die CIA für ihn kämpfen? Selbst wenn die Amerikaner gewillt wären, ihn zu exfiltrieren, würde die Zeit genauso qualvoll gegen ihn arbeiten wie sonst auch. Angenommen, man würde entscheiden, ihn zu verschonen, bräuchte die CIA Zeit, um genug Spione zu positionieren, während der Staatssicherheitsdienst ihn jederzeit verhaften konnte. Warum war das noch nicht passiert? War er erst vor Kurzem als Verräter enttarnt worden? Konnte der Staatssicherheitsdienst das Ausmaß seiner Verbrechen noch nicht abschätzen? Er hatte keine Antworten auf seine Fragen, die zu stellen er nicht aufhören konnte. Wie ein nerviges Kinderlied würden sie in seinem Kopf kreisen, bis er anfangen würde zu schreien.
Antworten würden an der Tatsache nichts ändern, dass Pioneer eigentlich bereits ein toter Mann war, dem aber noch eine Hoffnung blieb. Alle Führungsoffiziere, mit denen er zusammengearbeitet hatte, hatten ihm versprochen, ihn in einem solchen Fall aus China rauszuschaffen. Für einen von ihnen war es nun Zeit, sein Versprechen einzulösen.
Achter Tag
Sonntag
Peking
Mitchell saß selbst am Steuer, was für einen Amerikaner in Peking an sich schon eine Leistung war. Die schriftliche Führerscheinprüfung enthielt hundert Fragen, die in der englischen Version nahezu unverständlich waren. Die meisten von Dunnes Leuten, die einen Führerschein hatten, hatten ihn mehrfach wiederholt und sich während der Vorbereitungen gegenseitig abgefragt. Mitchell hatte die Prüfung auf Chinesisch abgelegt, auch das für sich genommen eine Leistung, und sie fehlerfrei bestanden, was bei Amerikanern bisher noch nie vorgekommen war. Dennoch zog er es vor, sich auf der Schiene fortzubewegen. Der Verkehr in Peking floss durch die Straßen wie das Wasser in Venedigs Kanälen, ohne sich von Verkehrsregeln beeindrucken zu lassen. Fahrer reagierten instinktiv und bewegten sich wie in einem Fischschwarm, wo ein einzelnes Fahrzeug, das abbog, hinter sich eine Welle auslösen konnte. Mitchell hatte Monate gebraucht, um hier ein Gefühl für den Verkehr und das Tempo zu entwickeln, doch die Mühe war es wert gewesen. Damit machte er das Leben für die chinesischen Sicherheitskräfte, die ihn beschatteten, zur Hölle.
Auf der Wangfujing-Dajie-Straße bog er ab und drückte aufs Gaspedal. Sein Blick wanderte zwischen Straße und Rückspiegel hin und her. Die Staatssicherheit war hinter ihm. Die Gegenüberwachung von Fahrzeugen war schwierig zu bewerkstelligen, vor allem, weil der Fahrer mehr auf den
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