Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
Auftrag zu erledigen, sodass hier niemand etwas Illegales vermuten konnte. Einige Zuschauer blieben nur ein paar Minuten stehen, andere trotzten der Kälte eine ganze Stunde lang. Schließlich gab es genug zu sehen. In einer anderen Jahreszeit wären die Schriftzeichen im Nu verschwunden, fast so schnell verdampft in der Sonne, wie sie aufgetragen wurden. Nicht jedoch im Winter. Gegen Abend sank die Temperatur, und der Boden wurde kälter als die Luft. Die nassen Schriftzeichen blieben und zwangen Pioneer und die anderen, sich den Bürgersteig entlang zu einem freien Stück Leinwand zu bewegen. Schließlich wurde es auch Pioneer zu kalt. Er reichte den Pinsel einem anderen älteren Mann und ging in Richtung Lotusstraße. Dieser Teil entlang des Südufers des Qianhai-Sees war mit Restaurants und Bars gesäumt, wo er etwas Warmes trinken wollte, am liebsten einen Kaffee, an den er sich mittlerweile gewöhnt hatte.
Im Nachhinein betrachtet hätte Pioneer der Mann auf dem Fahrrad auffallen müssen. Gewöhnlich war er aufmerksam genug, um solche Dinge zu bemerken, doch er hatte sich vollkommen auf die Wasserkalligrafie konzentriert und nicht gesehen, dass der Mann im Park dreimal an ihm vorbeigefahren war. Als Pioneer den Fußgängerbereich der Lotusstraße betrat, versuchte sein Verfolger, vom Fahrrad zu steigen, bevor er abgebremst hatte. Mit dem Vorderreifen schlitterte er jedoch über eine vereiste Stelle, geriet ins Straucheln und kippte, zwei Fußgänger mit sich reißend, zur Seite. Er schrie vor Schmerzen auf, weil sein Bein an zwei Stellen brach. Eine der Fußgängerinnen, die er von hinten rammte, schrie ebenfalls auf. Sie konnte den Sturz nicht abfedern und landete auf dem Gesicht. Das Knacken, als ihre Nase brach, konnte Pioneer deutlich hören. Das zweite Opfer, ein Mann, wurde von der stürzenden Frau mitgerissen und nach rechts gegen ein Ziergeländer geworfen. Er konnte sich noch rechtzeitig abstützen, bevor er über das Geländer kippte, verlor auf dem Eis aber sein Gleichgewicht und zog sich ein paar blaue Flecken zu.
Als Pioneer sich umdrehte, war der Unfall an sich bereits passiert. Eine Frau lag mit gebrochener, blutender Nase auf dem Bauch, ein Mann neben dem Geländer versuchte mit schmerzverzerrtem Gesicht, wieder aufzustehen, und ein Fahrradfahrer umklammerte sein Bein, das in einem unnatürlichen Winkel abstand. Pioneer, dem bei dem Anblick beinahe schlecht wurde, ging, ohne nachzudenken, zu diesem Mann, um ihm zu helfen. Als der Mann sich auf die Seite drehte, rutschte ihm ein Funkgerät aus der Manteltasche, ein schwarzes Motorola, das größer war als eines, das ein Tourist vielleicht privat benutzen würde. Ein Kabel führte zu einem Ohrstöpsel, der sich aber aus seinem Ohr gelöst hatte. Der Mann versuchte vergeblich, nach dem Funkgerät und dem Ohrstöpsel zu greifen, beging dann aber den Fehler, der ihn endgültig enttarnte.
Pioneer beugte sich zu dem Mann hinunter, der vor Schreck erstarrte. Ein jüngerer Offizier, dem die Erfahrung fehlte und dessen Panik ihn die wenigen Monate seiner Ausbildung vergessen ließ. Sein Instinkt sagte ihm, er müsse den Kontakt mit dem Zielobjekt vermeiden – was für gewöhnlich richtig war, aber nicht, wenn sich das Ziel völlig auf ihn konzentrierte. Der Offizier zuckte zurück, was für einen Mann, der dringend Hilfe benötigte, die vollkommen falsche Reaktion war. Er bemerkte seinen Fehler und beging den zweiten, indem er Pioneer direkt in die Augen blickte, um zu sehen, ob dieser ihn durchschaut hatte, als hätte der Ohrhörer nicht bereits genug verraten. Auch in jedem anderen Land hätte sich der Besitzer ein Schild mit »Geheimdienst« auf die Stirn kleben können.
Pioneer blickte dem Mann in die Augen und … erkannte ihn. Er war sich sicher, dass sie sich noch nie begegnet waren. Sein Gedächtnis für Gesichter war gut, eine notwendige Begleiterscheinung jahrelanger Übung in der Gegenüberwachung, doch mit seinem Blick hatte sich der verletzte Mann verraten. Pioneer selbst ließ sich instinktiv nichts anmerken, während er in Gedanken die Möglichkeiten durchging. Doch es blieb nur eine, die ihm Hoffnung auf ein Überleben gab.
Er griff zum Funkgerät und Ohrhörer und reichte sie dem Mann.
Der Blick des Fahrradfahrers zeigte genauso viel Überraschung wie Schmerz, als er die Sachen von seiner Zielperson entgegennahm. Hatte dieser Mann nicht bemerkt, dass er vom Staatssicherheitsdienst war?
So dumm war Pioneer natürlich nicht, doch er
Weitere Kostenlose Bücher