Erbarmungslos: Thriller (German Edition)
»Wollen Sie mir nicht mal erzählen, was da unten in Venezuela passiert ist?«
Sie drehte den Kopf überrascht in seine Richtung. »Cooke hat Ihnen davon erzählt?«
»Erst nachdem ich ein paar Schlussfolgerungen darüber gezogen habe, warum sie Sie in die Rote Zelle gebracht hat.«
Kyra runzelte die Stirn und sah sich in der abgedunkelten Kabine um. Die meisten Fluggäste bereiteten sich darauf vor zu schlafen oder sahen sich einen Film an. Sie rollte den linken Ärmel ihrer Bluse nach oben und zog den Verband um ihren Oberarm zurück, damit Jonathan einen Blick auf die Rückseite ihres Arms werfen konnte, ohne dass die anderen etwas mitbekamen.
Jonathan blickte auf die Wunde, die seitlich über ihren Trizeps verlief. Die Fäden waren noch nicht gezogen. Sie hatte auf jeden Fall etwas Fleisch verloren, und es würde eine hässliche Narbe zurückbleiben. Er sah sich die Wunde genauer an. »7,62-Millimeter-Geschoss?«
»Gut geraten.« Kyra zog den Verband über die Wunde zurück und rollte den Ärmel wieder nach unten.
»Das Kaliber, das in Südamerika üblicherweise vom Militär verwendet wird«, fuhr er fort. »Ein Schuss aus nächster Nähe.«
»Richtig. Waren Sie schon jemals in Peking?«, fragte sie. Bitte, lass das Thema sausen .
Er schwieg kurz, als überlege er, ob er ihr die unausgesprochene Bitte gewähren sollte. »Leider nein«, sagte er schließlich. »Es wäre sehr nützlich, wenn einer von uns schon einmal dort gewesen wäre. Es heißt, man findet sich dort nur schwer zurecht.«
»Kein Problem«, erwiderte Kyra.
»Optimistin.«
»Wenn wir es nicht schaffen, uns in einer fremden Stadt ohne Stadtplan zu bewegen, dann arbeiten wir für die falsche Behörde«, sagte sie und registrierte überrascht, dass Jonathan lächelte.
CIA-Informationszentrale
Weaver stellte die Coladose in sicherem Abstand zu seiner Tastatur ab – er hatte bereits mehr als ein elektronisches Gerät an kohlensäurehaltige Getränke verloren – und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Im Büro draußen herrschte Totenstille, nur die Ventilatoren in seinen Rechnern unter dem Schreibtisch summten. Er hatte das gesamte Großraumbüro für sich, und so war es ihm am liebsten. Auch ohne Ablenkung durch Analysten, die sich vor seiner Tür unterhielten, war es schwierig genug, Hexadezimalcode in eine Assemblersprache zu übersetzen.
Das Rückentwickeln eines kompilierten Computerprogramms war die schwierigste Aufgabe eines Programmierers. Programme schreiben, selbst komplexe, war dagegen ein Kinderspiel. Der Programmierer konnte irgendeine der zwölf Programmiersprachen verwenden. Eine Programmiersprache vereinfachte das Leben des Codierers, da er englische Wörter – den Quellcode – statt nur Zahlen benutzen konnte, die alles waren, was ein Rechner eigentlich verstand. Die englischen Befehle wurden von einem Compiler, der die Aufgabe eines nur in diese Richtung arbeitenden Übersetzers übernahm, in Zahlen umgewandelt.
Beim Rückentwickeln wurden diese rohen Zahlen in englische Befehle ohne richtungsweisenden Quellcode zurückübersetzt. Es war, als versuche man, ägyptische Schriftzeichen ohne ein Sprachlernprogramm zu übersetzen. Menschen dachten im Zehnerzahlensystem mit Ziffern in der Reihenfolge 0-1-2-3-4-5-6-7-8-9, bevor mit einer zweiten Ziffer die 10 erzeugt wurde. Rechner funktionierten mit dem 8-Bit-Binärsystem, bei dem die Sequenzen 00000000-00000001-00000011 bis ins Unendliche reichten. Doch beim Lesen der Reihen aus 0ern und 1ern konnten leicht Fehler passieren und eine Langeweile entstehen, die auch Kaffee oder Cola nicht beseitigten. Daher verwendete Weaver einen Decompiler, um die Binärzahlen in Hexadezimal-Basis-16 zu übersetzen. Zumindest konnte er in Hexadezimal in der Reihenfolge 1-2-3-4-5-6-7-8-9-a-b-c-d-e-f denken, doch ab da musste er sich die Zahlen ansehen und versuchen, sie in einen Quellcode zurückzuverwandeln, der dieselben Aufgaben erfüllte.
Die Privatwirtschaft bezahlte viel Geld an diejenigen, die Programme rückentwickeln konnten, denn auf diesem Weg gelangte ein Unternehmen an die Geheimnisse eines Konkurrenten. Weaver mit seinem verrückten Kopf beherrschte diese Fähigkeit. Wäre er auf die großzügigen Angebote von Microsoft und Google eingegangen, hätte er mit Industriespionage mehr als das Doppelte verdienen und ein unbeschwertes Leben führen können, doch seine patriotische Ader hielt ihn in den Diensten der Regierung gefangen, und seinen Spaß an der Arbeit hatte er
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