Erbe des Drachenblutes (German Edition)
niemals über ihre zugewiesenen Grenzen hinaus zu jagen. Dieses Gelübde war nun gebrochen.
Mina erzählte Herdanik von dem Besuch bei Jesa. Sie war erleichtert, dass er sie dabei nicht unterbrach, allerdings wechselte er von Minute zu Minute seine Gesichtsfarbe, bis die Haut bei einem so tiefen Rotton angekommen war, dass Mina sich nicht mehr sicher war, ob er nicht gleich einem Herzinfarkt erliegen musste.
»Gut«, sagte er nach einer gewissen Zeit, die er offensichtlich gebraucht hatte, um sich zu sammeln. »Ihr wart also – und, das möchte ich festhalten, ohne jeden Schutz oder Verstand – bei dem verfluchten Seraphin, der Euch gesagt hat, dass Ihr zum Auge der Götter reisen müsst, dem höchsten Berg in der Kette des Ohemes. Dort – so vermutet Ihr – gibt es eine Eishöhle, in der sich möglicherweise der Ursprung Eures Blutes befindet, die Drachendame Lian. Sie wollt Ihr finden, um das freie Land vor einem schrecklichen Krieg mit dem dunklen Kontinent zu bewahren. Das zumindest ist Eure Deutung der Prophezeiung, richtig?«
Mina folgte seinen Worten stirnrunzelnd, stimmte dann aber zu. »Na ja, wir wissen natürlich nicht mit absoluter Gewissheit, ob das Orakel Lian meinte, aber meiner Meinung nach ist es die einzige logische Antwort. Und wenn sie noch lebt, kann sie auf das Drachenwissen zugreifen, was mir noch verborgen ist. Ich bin euch allen zurzeit keine Hilfe, sie wäre es aber. Somit sehe ich in einer solchen Reise nur Vorteile, und deswegen sollten wir schnellstmöglich aufbrechen.«
»Sicher«, erwiderte Herdanik tonlos. Er stöhnte und hob beide Hände gen Himmel.
»Ihr Götter, schenkt dem unvernünftigen Kind bitte Verstand! Kein Lebewesen, das in Dra'Ira groß geworden ist, würde Jesa Glauben schenken! Und ich bin mir sicher, dass Salvatorus Euch bei diesem unsinnigen und gefährlichen Ausflug mehrfach darauf hingewiesen hat. Schlimm genug, dass er Euch begleitet und nicht aufgehalten hat.«
Dass Herdanik die Geschehnisse nicht sonderlich gut aufnahm, lag auch daran, dass er den ganzen Tag mit der Suche nach Mina verbracht hatte. Keiner hatte sagen können, ob sie Tempelburg einfach verlassen hatte oder ob ihr – nach der Ermordung der Regentin – selbst etwas zugestoßen war. Allein deshalb hielt er ihr Verhalten für untragbar.
Salvatorus nahm sich ein Herz und trat näher. »Herdanik, Ihr seid ein weiser Mann und ich respektiere Eure Meinung, das wisst Ihr. Auch ich war mehr als skeptisch, als ich von Minas Vorhaben erfuhr, doch wir dürfen nicht vergessen, dass sie auch bald unsere neue Regentin sein wird. Spätestens dann sind wir ihr gegenüber weisungsgebunden. Zwar werden wir ihr stets mit Rat und Tat zur Seite stehen, bis sie sich in unserer Welt zurechtfindet, aber meines Erachtens sollten wir schon heute ihre Wünsche respektieren. Deshalb unterstütze ich ihre Idee mit der Reise und bitte Euch, das genauso zu tun.«
Herdanik funkelte den Ratssprecher bedrohlich an. »Ich sage Euch was, Salvatorus. Ich bin der Meinung, dass Ihr alt geworden seid! Wie konntet Ihr Mina zum Orakel gehen lassen? Und dann nicht einmal jemanden von der Greifengarde über die Dummheit informieren? So etwas wäre früher nicht passiert. Und wenn wir uns nicht nach Stunden des sinnlosen Suchens dafür entschieden hätten, außerhalb von Tempelburg eine Patrouille zu fliegen, wärt Ihr wahrscheinlich alle drei heute gestorben!«
»Es ist ja nicht so gewesen, dass Mina mich um meine Erlaubnis gefragt hätte«, verteidigte Salvatorus sich halbherzig. »Wenn Nexus nicht zu mir gekommen wäre, wäre ich genauso unwissend gewesen. Ich hatte gerade noch genügend Zeit, ihr nachzulaufen. Und natürlich war ich zuerst davon überzeugt gewesen, dass ich sie davon abhalten könnte. Und als ich merkte, dass Minas Meinung nicht mehr zu ändern war, waren wir einfach schon zu weit entfernt.«
Salvatorus klang überzeugend, dennoch wirkte Herdanik nicht zufrieden. »Offensichtlich hat das vermaledeite Orakel Euch ja nichts getan«, entfuhr es ihm milder. »Wobei ich mir gut vorstellen kann, dass sie Euch einfach verhext hat. Es kann keine andere Erklärung dafür geben, sonst würdet Ihr diese angebliche Prophezeiung nicht so treuselig glauben!«
»Nein«, widersprach Mina, »sie hat uns nicht verhext! Jesa mag nicht die vertrauenswürdigste Person sein, doch sie sieht die Chance, zu einem normalen Leben zurückzukehren. Ich bin mir sicher, dass sie uns nicht belogen hat, sondern uns wirklich helfen will.
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