Erbe des Drachenblutes (German Edition)
»Ich habe deine Wachen fortgeschickt, damit wir ungestört sein können.«
Er erkannte sie sofort, und das machte ihn noch nervöser als der Gedanke an einen Greifenreiter. Schnell schloss er die Augen. Er wollte sie nicht sehen, nicht so!
Die Schritte näherten sich weiter, bis sie hinter ihm verstummten.
»Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest«, sagte er leise.
»Wieso siehst du mich nicht an? Hast du Angst vor meinem Anblick?«
Es war Mina, aber sie klang sanfter als sonst. Sie klang auch reifer. Der gelegentliche, jugendliche Leichtsinn war aus ihrer Stimme verschwunden. Nirvan überlegte, was er sagen sollte. Ja, warum hielt er die Augen geschlossen? Vielleicht hatte er tatsächlich Angst, dass die neue Drachentochter mit der Mina, die er kannte, nicht mehr viel gemein hatte. Doch das wollte er ihr nicht sagen. Er öffnete die Augen, langsam drehte er sich zu ihr um.
»Ich habe keine Angst vor dir«, sagte er, doch dann weiteten sich seine Augen. Sie trug die Kleidung, die sie auch bei dem Überfall angehabt hatte, aber um Minas vertrauten Gesichtszüge, die nun blasser als zuvor waren, tanzten schneeweiße lange Haare in einem nicht vorhandenen Windzug. Ihre Augen hatten vormals schon die Farbe des Wassers gehabt, doch jetzt strahlten sie so tiefblau, dass es unecht wirkte. Ihre blassrosafarbenen Lippen formten ein Lächeln. Mina war schön, wunderschön, sah aber noch fremdartiger aus als ihre Mutter Samantha.
Sie sah all die Gedankengänge in Nirvans Gesicht. Sie selbst hatte es nicht anders wahrgenommen, als sie das erste Mal in ihren kleinen Handspiegel geblickt hatte. Sie war nicht mehr die, die am Morgen vor der Drachenmutter Lian gestanden hatte. Sie war nun jemand anderes, und die alte Mina war nur noch ein Teil von ihr. Und das äußere Erscheinungsbild war nicht alles, was sich verändert hatte. Was Nirvan nicht sah, waren ihre gewandelten Gefühle und Gedanken, die sie seit ihrem Erwachen ständig erfüllten. Als sie die Augen geöffnet hatte, hatte sie Nexus gesehen und doch durch ihn hindurchgeblickt. Sie hatte erkannt, dass die Welt Dra'Ira tatsächlich von den Göttern erschaffen worden war. Die Macht – die Handschrift der Göttermutter Gaia – hing hier an jedem Stein, an jedem Eiszapfen und an jeder Lichtspiegelung. Wie gespannt erwartete sie den Anblick des Umlands, wenn sie die Höhle erst verlassen würden. Mina sah die Welt nun mit anderen Augen. Bevor sie eine Frage im Geiste formulieren konnte, hatte sie die Antwort schon gefunden. Auch spürte sie jetzt etwas, an dessen Existenz sie vorher nur schwer hatte glauben können: Magie. Ohne dass es ihr jemand gesagt hatte, wusste sie nun, dass sie Magie in sich trug und jederzeit darauf zurückgreifen konnte, wenn sie es wollte. Es war die Magie des Drachenblutes.
»Lian ist tot, du bist ein Gefangener, und die fremde Hexe ist verschwunden.«
Überrascht sank Nirvan in sich zusammen. »Was soll ich dazu sagen?« Er blickte schwermütig zu Boden. »Es tut mir leid, Mina. So unendlich leid!«
»Ignis«, flüsterte Mina, »jetzt weiß ich ihren Namen. Ich weiß auch noch viel mehr. Etwas in ihrem Gesicht erschien mir bekannt, und jetzt weiß ich auch, was es war.« Ungläubig schüttelte sie den Kopf, ihre Lippen zu einem schmalen Spalt verzogen. »Ignis ist … « Sie konnte es kaum aussprechen, dann aber stieß sie es schnell hervor: »Ignis ist Janice! Als Drachentochter kann ich es klar erkennen, durch ihre pupillenlosen Augen aus meiner Erinnerung hindurchblicken, und ihr grenzenloses Leiden erkennen.« Eine Träne ließ ihre Wange hinab.
Nirvan fehlten die Worte. Er hätte gerne etwas Passendes gesagt, aber es fiel ihm einfach nichts ein. Sie seufzte. »Ich habe versucht, es zu verstehen, zu verarbeiten, aber ich fürchtete, den Verstand zu verlieren. Nachdem Nexus mich allein gelassen hatte, versuchte ich meine Gefühle zu ordnen. Am Ende blieb nur noch ein Gedanke: Ich wollte zu dir.«
Nirvan verbarg sein Gesicht in den Händen. Sie neigte den Kopf und beugte sich zu ihm herunter. »Geht es dir gut?«, fragte sie leise.
Er nickte. »So gut, wie es einem Mann gehen kann, der nirgendwo zuhause ist und mit magischen Fesseln gebunden zwischen einem Rudel Greifen sitzt. Mina, ich wollte nicht, dass das alles geschieht. Wenn ich es gekonnt hätte, hätte ich es verhindert. Bitte glaube mir. Ich wusste auch nichts von Janices Entführung und Verwandlung. Ich habe in Crudus Cor diese Ignis getroffen, und mir war nicht
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