Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
brauchte. Es war, als wüssten sie, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war. Die Luft knisterte vor Erwartung. Lilys schlimmster Albtraum wurde wahr: Sie war allein, Ty war fort, und sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.
Warm und sanft ertönte die Stimme der Königin an ihrem Ohr.
»Es ist so weit. Brauchst du meine Hilfe?«
»Was immer Sie für mich tun können«, erwiderte Lily ganz ehrlich. »Ich habe so etwas noch nie versucht. Könnten Sie mich unterstützen?«
»Natürlich. Ich kann zwar selbst keine Visionen hervorbringen, aber ich habe so etwas schon oft genug miterlebt; um zu wissen, wie es geht. Lausch einfach meiner Stimme. Ich werde dich führen.«
»Gut«, erwiderte Lily. Was hätte sie auch sonst sagen sollen? Wenn sie sich nicht darauf einließ, bedeutete das ihren sicheren Tod. Sie betete, dass ihr irgendetwas erscheinen würde, aber alles, was sie sah, alles, woran sie denken konnte, war der Mann, den sie doch am besten vergessen sollte.
Tys Gesicht. Tys Augen. Tys Stimme.
»Entspann dich«, sagte Arsinöe mit fester, wenn auch warmer und sanfter Stimme.
Es war überraschend einfach, dieser Stimme nachzugeben, sobald Lily sich nicht mehr dagegen sträubte. Überraschend einfach, zu vergessen, dass sie nicht nur zu zweit hier in diesem Raum waren.
»Konzentrier dich auf meine Stimme. Lass einfach alles los.«
Die Königin führte sie durch jenen langsamen Prozess, bei dem man jedes einzelne Glied entspannt, und leitete sie an, sich ganz auf ihren Atem zu konzentrieren. Es erinnerte Lily ein wenig an das, was sie über Hypnose wusste, nur dass es hier nicht um innere Einsichten und Suggestionen ging. Schließlich glitt sie in jenen Zustand zwischen Wachen und Schlafen, wo das Bewusstsein zwar noch wach, man mit sich aber im tiefsten Frieden ist, die quirligen Gedanken zur Ruhe gekommen sind und das Gehirn für Anweisungen zugänglich ist. Als Arsinöe ihr diese Anweisungen gab, sprach sie laut genug, dass die anderen im Saal sie gut verstehen konnten.
»Ich suche den Körper, in dem der Fluch gegen meine Leute geboren ist, die Leiche, aus der der Mulo herrührt, entstanden auf Befehl eines anderen, um die große Dynastie der Ptolemy zu zerstören. Öffne dein Auge, Seherin, und sieh, wo der Mulo rastet.«
Lily konnte es kaum glauben, aber sie spürte, wie sich etwas in ihr, etwas, das zwischen ihren Augen zu liegen schien, öffnete wie eine Blume. Ihr drittes Auge. Das Geschenk und der Fluch eines echten Mediums.
Und dann sah sie, wie sie noch nie gesehen hatte. Sie flog über Bäume und Berge, Felsen und Erde, schwebte in großer Höhe über allem, was war und was gewesen war und was jemals sein würde. Diese plötzliche Freiheit ließ ihre Brust anschwellen. Ein Gefühl wie dieses hatte sie noch nie erlebt.
»Such den Mulo, Seherin. Heute Nacht fliegst du nicht zu deinem Vergnügen.«
Die ungehaltene Zurechtweisung holte Lilys Gedanken wieder auf das eigentliche Thema zurück. Sie schwebte über die Welt und wartete auf einen Hinweis, wohin sie sich wenden solle, konzentrierte sich ganz auf das, wonach sie laut Arsinöes Anweisung Ausschau halten sollte. Sofort spürte sie, wie etwas sie durch den nächtlichen Himmel nach unten zog, vorbei an einer Ansammlung von Häusern, deren Lichter gespenstisch funkelten, über weite Felder, über die ein frischer Wind strich, und schließlich hinein in die massiven, halb verfallenen Überreste eines Hauses, einer dunklen Mauerhülle ohne Lichter. Lily wollte dort nicht hinein, wusste aber, dass ihr nichts anderes übrig blieb, und so gab sie dem Sog widerstandslos nach. Sie erhaschte einen kurzen Blick auf mit Tüchern verhängte Möbel, auf leere Flure, dann wurde sie in einen versteckten Raum im moderigen Keller gezogen, der ganz anders war als die verblassende Schönheit des restlichen Hauses.
Dort, auf einer Steinplatte, lag eine verwesende Leiche. Bei dem Gestank, der von ihr ausging, drehte sich Lily schier der Magen um. Sie würgte und schnappte nach Luft, als ihr der Fäulnisgeruch in die Nase drang.
»Bist du dort?«, fragte Arsinöe drängend. »Siehst du ihn?« Aus weiter Ferne hörte Lily das aufgeregte Murmeln der Vampire.
»Ja«, hörte Lily sich flüstern, allerdings klang ihre Stimme ebenfalls seltsam weit entfernt. Alles in ihr wollte nur fort hier, wollte davonfliegen, und dennoch zog es sie immer näher, zwang sie, die sterblichen Überreste eines Dings zu betrachten, in dem die gequälte Seele hauste, die die
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