Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
jetzt zu sehen.«
Lily riss die Augen auf, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, sich nichts anmerken zu lassen. »Sie … jetzt gleich?«
Ihr Besucher kniff misstrauisch die länglichen grünen Augen zusammen. »Ja. Du hast meinen Männern gegenüber doch behauptet, du seiest Lily Quinn, die Seherin. Stimmt das etwa nicht?«
»Doch, natürlich. Das ist mein Name. Und ja, ich bin eine Seherin.« In ihre Angst mischte sich allmählich auch immer mehr Wut. Sie mochte es nicht, wenn man sie herablassend behandelte.
»Nun, dann dürfte das hier ja keine übermäßigen Ansprüche an dich stellen. Außer du verbirgst irgendetwas, von dem sonst niemand etwas wissen soll.« Er kicherte. »Aber so dumm wärst du bestimmt nicht, da bin ich mir ganz sicher. Obwohl du doch ein Mensch bist.«
Lilys Haut fing an zu kribbeln. Sie konnte nur noch an ihr Mal denken, das jetzt nicht mehr brannte, sondern pulsierte wie ein zweites Herz. Oh … das ist neu. Aber irgendwie fühlte es sich seltsam beruhigend an.
»Nein«, erwiderte Lily tonlos. »Ich bin nicht dumm.«
Er hob ganz leicht eine seiner goldenen Augenbrauen. »Arsinöe ist verständlicherweise schon sehr gespannt, kleine Seherin. Inzwischen sind mehr als zweihundert Mitglieder unserer Dynastie niedergemetzelt worden. Wenn wir noch länger warten, werden zweifellos noch mehr ums Leben kommen. Sie ist überzeugt, dass du die Lösung des Problems bist.« Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, dass er das ganz anders sah. »Dann komm, wenn du so weit bist.«
»Ja, ich bin so weit«, erwiderte Lily. Ein hässliches Lächeln huschte über das Gesicht ihres Begleiters, als er ihr den Arm bot. Dennoch zwang sie sich, die Hand in seine Armbeuge zu legen. Sie beschloss, sich brav zu fügen und zu tun, was man von ihr erwartete. Letztlich konnte sie nur hoffen, dass sie für diese Leute irgendetwas Visionsähnliches hinbekam – und dass dabei nichts Verrücktes passierte und keine Möbel durch die Luft flogen. Vielleicht würde sie dann etwas aushandeln können, das ihr Weiterleben garantierte.
Sie gingen den Flur entlang, an den Türen zu Arsinöes Gemächern vorbei und eine prachtvolle Wendeltreppe hinunter.
»Vergiss nicht, dass es die Königin der Ptolemy ist, der du gegenübertrittst, der letzten noch lebenden Pharaonin«, sagte ihr Begleiter und sah sie dabei durchdringend an. »Dumme Menschen erträgt sie nicht, und die sollte man ihr auch gar nicht erst zumuten.«
»Mit anderen Worten: Ich soll mich anständig benehmen?«, erwiderte Lily. Nein, diesen Typen konnte sie ganz und gar nicht ausstehen.
Ihr Begleiter schürzte verächtlich die Lippen. »Genau.«
»Ich werde mein Bestes tun«, entgegnete Lily. Sie gingen einen langen Flur hinunter, an dessen Ende eine zweiflügelige Tür glänzte. Aus dem dahinterliegenden Raum erklang das auf- und abschwellende Gemurmel vieler Stimmen. Ihr Begleiter klopfte kräftig gegen einen der Flügel. Die Türen wurden von zwei Vampiren geöffnet, die mit den reich gekleideten Ptolemy, die sie bisher hier angetroffen hatte, nichts gemeinsam hatten. Sie trugen schlichte schwarze Kleidung, einer hatte hellblondes Haar, der andere braunes. Beide waren so dünn, dass sie fast schon ausgemergelt wirkten, und in ihren rötlichen Augen lag ein Glanz, den Lily nur allzu gut kannte.
Ihre Male konnte sie nicht sehen, aber das brauchte sie auch nicht. Die beiden waren Cait-Sith-Diener, und wie es aussah, ließ man sie absichtlich hungern. Vielleicht wurden sie dadurch angriffslustiger – Lily vermutete, dass man sie als Wachen einsetzte. Aber man merkte ihnen an, wie elend ihnen zumute war.
»Danke«, sagte sie zu jedem der beiden, was sie sehr zu überraschen schien.
»Also ehrlich!«, zischte ihr Begleiter. »Das sind doch nur Diener!«
»Komm herein, Lily Quinn. Wir haben schon auf dich gewartet.«
Die Stimme klang warm und angenehm. Trotzdem war Lily auf der Hut, als sie den Raum betrat, der offensichtlich ein Ballsaal war. Der Boden war mit Parkett ausgelegt, die hohen Fenster waren beschlagen von der kühlen Nachtluft. Unter der Decke hing ein riesiger Kronleuchter voller flackernder Kerzen. Überall standen Ptolemy, die sie neugierig ansahen. Sie alle trugen formelle Kleidung, und jeder hatte mindestens ein Kleidungsstück oder ein Accessoire in Purpurrot. Lily nahm an, dass das ihre Farbe war – die Farbe des Bluts. Sie erinnerte sich an die Tempelvampire aus ihrem Traum. Plötzlich wurde ihr bewusst, in was sie
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