Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
für ihn ganz ungewohnt. Und wenn es ihm gelang, musste er anschließend meist erst recht auf der Hut sein.
Aber das gleiche Gespür, das ihn auf eine unsichtbare Gefahr hinwies, sagte ihm auch, dass Lily ehrlich war.
Sie seufzte, legte den Kopf in den Nacken und sah in den Himmel hinauf, um ihre Gedanken zu sammeln. Das erinnerte Ty an jenen Abend, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte, und daran, wie sie in dem vom Mondlicht erhellten Garten gestanden hatte. Die Unschuld, die sie an jenem Abend ausgestrahlt hatte, war noch immer da, aber dazu hatte sich eine Erschöpfung gesellt, die ihm vorher nicht aufgefallen war.
Noch nie hatte er jemand so Unverdorbenen gehabt, noch nie eine Frau, die sich ihm hingab, ohne etwas dafür zu verlangen. Doch hier war sie: schön, ein wenig schüchtern, gleichzeitig mit Nerven wie Drahtseile und nach der letzten Nacht immer noch an seiner Seite. Ohne eine Gegenleistung zu erwarten.
In dem Moment wallte etwas in ihm hoch und schlug wie eine Welle über ihm zusammen, Gefühle, die er seit Jahrhunderten weggesperrt hatte, denn sie zuzulassen, hätte nichts als Schmerz bedeutet. Aber diesmal konnte er sie nicht mehr aufhalten, konnte sie nicht wieder wegsperren. Ty blieb stehen und gab dem Impuls nach, der ihn übermannte: Er nahm Lily, die ihn überrascht ansah, bei der Hand und zog sie an sich.
»Was ist los?«, fragte sie mit weit aufgerissenen Augen.
Dann lag sie in seinen Armen, und es fühlte sich an, als wäre sie genau jene andere Hälfte, mit der er zu einem Ganzen wurde. Er gab ihr einen Kuss, der alles ausdrückte, was er nicht sagen konnte, und sofort schmiegte sie sich an ihn, öffnete erwartungsvoll den Mund für seine Zunge und schlang die Arme um seine Schultern, als wäre er ihr einziger Anker. Er spürte, wie ihre wilde Seite von Neuem erwachte, und sein Körper reagierte sofort auf sie.
Sie wieder loslassen zu müssen war wie ein Vorgeschmack auf die Hölle, aber er musste es tun, wenn er nicht in aller Öffentlichkeit über sie herfallen wollte.
Lilys Augen waren ganz verhangen, als er sie losließ, ihre Lippen geschwollen von seinem Kuss, ihre Haut gerötet.
»Womit hatte ich den jetzt verdient?«, fragte sie belustigt.
Er lächelte, um den Aufruhr zu überdecken, der in ihm tobte. »Ich neige zu unkontrollierten spontanen Gefühlsausbrüchen. Hatte ich das nicht erwähnt?«
Ihr Lächeln war umwerfend. Sie öffnete den Mund, um zu antworten, aber Jaden kam ihr zuvor.
»Tut mir leid, wenn ich euch stören muss«, rief er über die Schulter. »Aber ich glaube, wir werden erwartet.«
So lief es die ganze Zeit mit Ty: Momente voller Glückseligkeit, Stunden voller Ärger und gelegentlich ein lebensgefährliches Ereignis.
Und jetzt schien ihr mal wieder eins der Letzteren bevorzustehen.
Lily drehte sich zu Jaden um, der stocksteif mitten auf dem Bürgersteig stand. Der Blick, den er ihnen über die Schulter zuwarf, ließ keine Überraschung erkennen, höchstens eine Spur von banger Vorahnung. Sie fragte sich, ob das wohl typisch für die Cait Sith war oder für Vampire im Allgemeinen oder ob nur Jaden und Ty so seltsam drauf waren.
»Sie kommen«, rief er Ty und ihr zu, und dann grinste er.
Es war bezeichnend, dass Lily ihn ausgerechnet jetzt zum ersten Mal, seit sie ihn kennengelernt hatte, lächeln sah.
Weiter vorne auf dem Bürgersteig lösten sich drei Vampire von der Wand, an der sie gelehnt hatten, und kamen auf sie zu. Zwei von ihnen waren große, breitschultrige Männer, die dritte eine kleine Frau mit kantigen Gesichtszügen. Alle drei trugen schwarz, ganz wie Lily sich das bei Vampiren immer vorgestellt hatte. Wobei sie annahm, dass es auch in der Vampirgesellschaft Mitglieder gab, die diesen Aspekt ihrer Existenz in den Vordergrund rückten.
Diese drei sahen wie Kämpfer aus, ein Eindruck, der von dem blutrünstigen Funkeln in ihren Augen noch verstärkt wurde. Doch Lily wich nicht zurück. Sie hatte sich den ganzen Nachmittag lang Gedanken darüber gemacht, was sie tun könnte, wenn sie nochmals in solch eine Situation käme, was sie für ziemlich wahrscheinlich hielt. Ihr Traum war ihr wieder in den Sinn gekommen, vor allem das, was die Leute der rothaarigen Vampirin angerichtet hatten. Wenn das nicht nur ein Traum, sondern eine Vision war, dann wäre sie vielleicht in der Lage, das, was in ihr steckte, in gleicher Weise einzusetzen wie gegen Damien.
Es war ein Experiment, und ein riskantes dazu. Aber wenn es klappte, hätte sie
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