Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
schien die Liebe nicht halten zu können – entweder entglitt sie ihr, oder sie warf sie weg. Aber da war noch etwas.
Der Junge! Zum ersten Mal kam ihr der Junge in den Sinn. Sascha.
13. Kapitel
R osaria stand vor ihrem Altar, zierlich und schlank, den Rücken zur Tür gewandt. Sie trug ein smaragdgrünes Seidenkleid, das Neville ihr vor Ewigkeiten geschenkt hatte und das ihr noch immer passte. Krankheit und Alter hatten ihre wohlgeformten Beine, die in schwarzen Strümpfen steckten, verschont, nur Schuhe hatte sie keine an den Füßen. Ihr nach wie vor dichtes, fast bis zu den Hüften reichendes Haar trug sie lose, was untypisch für sie war. In seinem ursprünglichen tiefschwarzen Ton gefärbt, sah es eindrucksvoll aus. Von hinten hätte man Rosaria für eine junge Frau halten können.
Madeleine blieb regungslos auf der Schwelle stehen, während sie ihre Mutter beobachtete. Opfergaben für Mamas Orischa Babalú Ayé standen auf dem Altar – ein Glas Kokosmilch und eine Tasse mit geröstetem Mais. Daneben lag ein in Olivenöl getränktes Stück Brot. Der winzige Flakon mit dem gemahlenen Hüftknochen ihrer Ahnfrau vom Stamme der Yoruba lag auf einem flachen Stein, und eine kleine Puppe, haarlos und mit einer Substanz bedeckt, die wie getrocknetes Blut aussah (wessen?), lehnte gegen das Bildnis der Gottheit. Babalú Ayé bei Tag zu verehren, war ungewöhnlich, denn er hasste das Licht. Aber hier stand Mama und beschwor ihn um vier Uhr nachmittags. Was für einen Zauber wollte sie wohl bewirken? Rosarias Orischa war der Vater der Seuchen, der Herr der Masern und sämtlicher Hautkrankheiten. Das Auftauchen von HIV wurde dem Zorn Babalú Ayés zugeschrieben. Er konnte auch Krebs, Lähmungen, Syphilis und Lepra entstehen lassen. Aber er besaß ebenso die Macht zu heilen. Geschätzt wurde auch seine Fähigkeit, sexuelle Kraft zu verleihen, weshalb ihn Liebende gern anriefen, die nach einem Zauber suchten, der Lust und Leidenschaft steigerte, aber auch diejenigen, die ihren Partner zu verlieren fürchteten.
Madeleine fragte sich, ob sie das Ritual unterbrechen sollte. Die Schwestern und Pflegerinnen waren offenbar an Mamas Eigenarten gewöhnt und ließen sie gewähren, sonst würde sie jetzt kaum vor ihrem Altar stehen. Unversehens drehte sich Rosaria mit einer scharfen Bewegung um. Sie bedachte ihre Tochter mit einem eisigen Blick, und Madeleine zuckte zusammen. Sie hatte offenbar irgendeinen Vorgang gestört.
Rosaria wandte sich an ihre Tochter: »Gut, dass du gekommen bist, Madeleine. Ich muss diese Zigarre rauchen.« Sie nahm eine noch in Cellophan gehüllte Zigarre vom Altar. Neville oder vielmehr Ronald Trapp, sein Anwalt, ließ jeden Monat ein Kistchen Zigarren nach Setton Hall schicken. Neville war zwar ein selbstsüchtiger Mensch, aber er wusste offensichtlich um das Vergnügen, das eine gute Zigarre seiner kubanischen Exfrau bereitete. Was er wahrscheinlich vergessen hatte, war die wesentliche Rolle, die Zigarren bei ihren Ritualen spielten.
»Bring mich ins Freie, Magdalena. Mach schnell!«
Es war ein schöner, wenngleich windiger Tag, und Madeleine suchte im Schrank nach einer Jacke und festen Schuhen und half Rosaria, sie anzuziehen.
»Gut, Mama, gehen wir nach unten und sagen beim Empfang Bescheid, dass wir ins Freie gehen. Hast du Streichhölzer?«
»Nun redest du aber Unsinn. Glaubst du allen Ernstes, dass man ausgerechnet mir erlaubt, Streichhölzer zu besitzen? Da wäre doch schon längst alles in Rauch aufgegangen.«
Es kam nicht oft vor, dass sie gemeinsam über einen Scherz lachten, und sie kicherten wie gute Freundinnen.
Sie meldeten sich ab und gingen auf den Rasen hinunter. Wenn es das Wetter gestattete, servierte man den nachmittäglichen Tee für Patienten, die Besuch hatten, im Freien. Blaue Korbtische mit gestärkten weißen Leinendecken standen auf dem Rasen verteilt, Madeleine brachte Rosaria an einen Tisch unter einer Eiche. Dann ging sie, um eine Kanne extrastarken Kaffee zu bestellen und sich ein Feuerzeug auszuleihen.
»Hast du einen Drink für mich?«, flüsterte Rosaria bei Madeleines Rückkehr.
Ihre Tochter holte eine Flasche aus ihrer Handtasche und goss unauffällig einen guten Schuss Rum in einen Plastikbecher. Rosaria zündete endlich ihre Zigarre an, und Friede breitete sich aus. Beim Rauchen war Rosaria in ihrem eigenen Himmel. Mit geschlossenen Augen paffte sie resolut und fachmännisch, die gute Zigarre genießend.
»Mama! Wo ist meine Brosche?«
Rosaria
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