Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
gesehen. Sie fragte sich nun, ob sie eigentlich überhaupt schon einmal allein mit ihr gewesen war. Mama hatte es nie gestattet. Immer hatte sie über dem Kind gewacht, auch in Madeleines Anwesenheit, als könnte sie ihr nicht trauen, als würde Madeleine mit ihrem Kind durchbrennen.
»Du erinnerst dich also an deine große Schwester? Das ist schön.«
»Ja.«
Sie kitzelte Mikaela unter dem Kinn. »Und wie heiße ich?«
Das kleine Mädchen wand sich kichernd. »Lena«, antwortete sie zögernd. Dann strahlte sie plötzlich und schrie: »Magdalena.«
»He, du weißt tatsächlich meinen Namen … Und nun wohnst du in einem schönen Haus mit Papa und Mama?«
»Ja, ich habe lauter neue Spielsachen. Ich habe den Teddy, den du mir geschenkt hast, und den von Rose.«
»Ach, den. Den hast du noch? Ich habe ihn bekommen, als ich ein kleines Mädchen war. Wer ist denn Rose?«
»Eine Freundin von Mami.«
»Das ist schön. Hast du viel Spaß mit Mama und Papa?«
»Hm. Ja.« Sie griff nach Madeleines Hand. »Kommst du uns besuchen?«
Madeleine wusste nicht, ob sie lügen sollte. »Irgendwann vielleicht einmal. Aber ich werde ganz woanders wohnen. Ziemlich weit weg.«
»Ach.«
»Du kommst bald in die Schule.«
Mikaelas Gesichtchen verzog sich plötzlich zu einem schelmischen Grinsen. »Warum magst du Ameisen?«
»Ich weiß nicht. Es macht Spaß, ihnen zuzusehen. Sie sind schlauer als Menschen und haben keine schlechte Laune.«
»Hm. Wir haben jede Menge im Garten. Mami fegt sie vom Weg.«
»Darf ich dich in den Arm nehmen?«
»Ja.«
Madeleine drückte ihre Tochter fest an sich. Sie wusste, dass sie diesen letzten Moment nicht endlos ausdehnen konnte. Plötzlich wurde ihr die Bedeutung dieses Abschieds bewusst, seine Ungeheuerlichkeit, die Unwiderruflichkeit seiner Konsequenzen. Furcht und Einsamkeit überkamen sie. Auch sie hatte keine Eltern. Nicht, wenn es darauf ankam. Warum war ihr eigener Vater jetzt nicht bei ihr?
»Sei schön brav, mein kleiner Schatz. Ich werde dich später besuchen.«
»Wann denn?« Mikaela entwand sich ihren Armen.
Madeleine sah ihrer Tochter tief in die Augen. Würde sie diese Augen jemals wiedersehen? O Gott! Lass nicht zu, dass ich sie verliere!
»Wann kommst du mich besuchen?«, beharrte Mikaela.
»Wenn wir beide groß sind«, antwortete Madeleine schließlich, und Tränen traten ihr in die Augen. Sie musste gehen. Weit, weit weg.
***
Das für den nachmittäglichen Kaffee zuständige Mädchen hatte wohl von Rosarias erregtem Geschrei etwas mitbekommen und telefonisch im Haus Bescheid gegeben. Zwei Pfleger kamen über den Rasen geeilt. Schließlich konnte man sich nicht den würdevollen nachmittäglichen Tee auf dem Rasen von der Zigarre rauchenden kubanischen Hexe verderben lassen. Was sollten die Besucher denken? Madeleine wusste, dass sie wieder einmal etwas falsch gemacht hatte. Vielleicht hatte Dr. Jenkins ja doch recht, und ihre Besuche verstörten ihre Mutter tatsächlich und regten sie unnötig auf.
Die Pfleger packten die kreischende Rosaria und führten sie sanft, aber unnachgiebig zum Haus zurück. Madeleine blieb einfach stehen. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, und sah zu, wie ihre Mama sich dagegen wehrte, halb über das Gras gehoben und halb geschoben zu werden.
Ohne auf die Blicke von den anderen Tischen Rücksicht zu nehmen, bückte sie sich und hob Rosarias noch glimmende Zigarre auf. Sie steckte sie sich zwischen die Lippen und rauchte. Dann setzte sie sich ins Gras, lehnte den Rücken an die alte Eiche, fischte die Flasche aus der Tasche und gönnte sich noch einmal einen kräftigen Schluck.
Während sie an der Zigarre zog, legte sie den Kopf in den Nacken und sah hinauf in die Baumkrone. Es war ein ganzes Stück bis nach oben, und sie dachte an ihr Haus in dem alten Banianbaum. Sie fragte sich, wie es wohl aussehen mochte. Plötzlich überfiel sie eine heftige Sehnsucht nach Key West. Vielleicht brauchte sie einen Urlaub in der Heimat. Besser als jetzt konnte das Wetter auf den Inseln nicht sein. Bald würden die Hurrikane einsetzen …
Eine Bewegung neben ihrem Kopf ließ sie aufmerken. Ein Trupp Formica fusca wand sich in zwei gleichmäßigen Bahnen den Baum hinauf und wieder hinunter. Madeleine lächelte. Für diese spezielle Ameisenart hatte sie eine Schwäche. Die Formica fusca war sanft und ängstlich, sie scheute Gewalt und ergriff lieber die Flucht als zu kämpfen.
Madeleine wandte den Kopf und fragte sich, wie diese Ameisen sie wohl
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