Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
unwirklich vorgekommen. Von Tag zu Tag war ihr klarer geworden, dass Mikaela ihre Tochter war und nicht die Tochter von Rosaria, Forbush, dem Sozialamt, dem Staat oder von Mr und Mrs XY. Und ausgerechnet jetzt, nachdem dieses Gefühl in ihr gewachsen und groß geworden war, als hätte sie eine erneute Schwangerschaft durchgemacht, wollte man sie für immer von ihrer Tochter trennen.
Als Karen Enberg durch die Tür trat, war Madeleine in Panik. Sie sprang auf und ergriff den Arm der großen, mütterlichen Sozialarbeiterin. »Karen«, schluchzte sie. »Ich stehe das nicht durch. Ich schaffe es nicht!«
»In Ordnung, Mädchen, das geht klar. Ich sage den Eltern, dass die Begegnung nicht stattfindet. Sie sind sicher erleichtert. Es war ohnehin keine gute Idee.«
»Nein!«, schrie Madeleine. »Ich spreche doch von der Adoption. Ich stehe die Adoption nicht durch. Ich habe meine Meinung geändert!«
Karen legte ihren Arm um Madeleines Schultern. »Sie haben die Papiere unterschrieben. Sie können jetzt nicht mehr zurück, das wissen Sie. Es ist ein Entgegenkommen von Mr und Mrs XY, Mikaela hergebracht zu haben. Sie fühlen mit Ihnen, wirklich, aber sie haben auch klargemacht, dass sie einen sauberen Neuanfang wünschen. Vor allem für Mikaela.«
Karen führte Madeleine zurück zu den Plastikstühlen an der Wand. »Sie sind selbst noch so jung, Mädchen. Wenn Sie erst mal wieder in Florida sind, treffen Sie bestimmt einen netten Mann, heiraten und bekommen eine ganze Reihe Kinder.«
Trotz ihres Kummers und ihrer Verzweiflung flammte Zorn in Madeleine auf: »Karen, behandeln Sie mich nicht wie ein kleines Kind. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich höchstwahrscheinlich keine Kinder mehr kriegen kann.«
Karen tätschelte ihr die Schulter. »Glauben Sie nicht alles, was man Ihnen sagt. Sie können mit Sicherheit noch Kinder bekommen.«
Sie hatten das Thema schon mehrmals durchgesprochen. Karen hatte ihr erzählt, dass ihre eigene Mutter vor vierzig Jahren ein Mädchen zur Adoption freigegeben und sie gerade Verbindung mit ihrer Schwester aufgenommen habe. Immer häufiger machten natürliche Eltern ihre adoptierten Kinder mit Hilfe entsprechender Einrichtungen wieder ausfindig.
»Wenn Mikaela groß ist, werden Sie sich sehr wahrscheinlich aufspüren und gute Freunde werden.«
»Das tröstet mich überhaupt nicht«, weinte Madeleine.
Karen tätschelte ihr das Knie. »Nun beruhigen Sie sich. Es wäre nicht gut für Mikaela, Sie in diesem Zustand zu sehen. Es würde sie belasten.«
Einige Minuten später öffnete sich die Tür. Es waren Regis Forbush und Mikaela. Ohne selbst das Zimmer zu betreten, bedeutete er dem kleinen Mädchen hineinzugehen. Madeleine sprang auf, um ihrer Tochter entgegenzueilen, merkte aber sofort, dass diese nicht genau wusste, wer sie war. Eingeschüchtert stand das Kind in einer bauschigen rosa Jacke, einer roten Hose und schwarzen Lackschühchen da.
»Ich will zu meiner Mami.«
»Hi, Micki.« Madeleine kniete sich auf den Boden und bemühte sich, nicht zu weinen, sondern ein ganz normales Gesicht zu machen. Mikaela war ein Stück gewachsen, und ihr Haar war dunkler geworden. Sie hatte eine düstere Miene aufgesetzt, aber sie sah gesund aus und hatte rosige Wangen, daran bestand kein Zweifel.
»Setzen wir uns hin«, schlug Karen fröhlich vor, offensichtlich in der Annahme, dass sie hier den Ton angab.
»Nein«, gab Madeleine zurück. »Ich wäre gern ein paar Augenblicke mit Mikaela allein. Bitte. Ich möchte mich von ihr verabschieden … unter vier Augen.« Sie sah, wie Karen etwas einwenden wollte, und fügte hinzu: »Ist das zu viel verlangt?«
»Wo ist meine Mami?«, fragte die Kleine, den Tränen nahe.
»Mami und Papi warten unten«, versuchte Karen das Kind zu besänftigen. »So, setzen wir uns hier hin. Na komm schon.«
Weder Madeleine noch Mikaela gehorchten.
»Das ist meine Schwester«, piepste Mikaela plötzlich und deutete auf Madeleine.
»Sieh an, sieh an«, lachte Karen ein wenig zu laut.
Madeleine trat einen Schritt auf die Sozialarbeiterin zu: »Karen, das ist lächerlich. Bitte verlassen Sie für ein paar Minuten den Raum. Ich sage weder etwas Dummes, noch werde ich etwas Dummes tun.«
Karen stieß einen Seufzer aus. Es war ihr offensichtlich daran gelegen, das Ganze möglichst rasch über die Bühne zu bringen.
Sie bedachte Madeleine mit einem strengen Nicken und ging.
Mutter und Tochter waren allein. Madeleine hatte Mikaela über ein Jahr lang nicht mehr
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