Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
ein Recht auf Unterstützung habe, wenn sie ohne Beschäftigung sei, aber bei dem vielen Geld auf der Bank und dem Haus, das sie besaß, galt das mit Sicherheit nicht für sie. Und im Übrigen hatte sie schon immer Angst davor gehabt, Sozialhilfe zu beantragen; man stellte zu viele Fragen auf dem Sozialamt.
Als sie eine Routine entwickelt hatten, ließ sich die Tapete ganz leicht entfernen. Sie war so alt, dass sie sich zu Brei auflöste und einfach die Wand hinunterrutschte. Ihnen wurde heiß bei der Arbeit. Charlene legte sogar ihre Pudelmütze ab. Rachel verstand nun, warum sie sie aufbehielt. Ihr kurzes Haar war an einigen Stellen ausgefallen. Das arme Kind. Es sah erbarmungswürdig aus.
»Was ist denn mit deinem Haar passiert?«
»Keine Ahnung. Vermutlich Stress«, meinte sie gereizt.
Rachel musste an Sylvia, Madeleines Sprechstundenhilfe, denken. Vermutlich kannte sie ein Mittel, das helfen würde.
»Du könntest zum Arzt gehen. Das kostet nichts. Vielleicht brauchst du Vitamine oder so etwas Ähnliches.«
Charlene machte eine verschlossene Miene. Ihr Haar war kein Thema, über das sie zu sprechen wünschte, das war offensichtlich.
Der Gedanke an Sylvia und die Praxis hatte Rachel einen Stich versetzt. Sie wusste, dass es feige war, aus einer Therapie auszusteigen, wenn sich die Dinge zuspitzten, aber sie hatte den Mut verloren. Nach der geschwänzten Sitzung war eine Nachricht auf ihrem Handy gewesen. Madeleine hatte angefragt, ob sie einen neuen Termin wünsche. Danach hatte sie nichts mehr von ihr gehört. Was hatte sie erwartet? Schließlich war sie für die Frau nichts weiter als eine zahlende Patientin. Aus den Augen, aus dem Sinn.
»Hast du vor, die Wände zu streichen?«, unterbrach Charlene Rachels Gedanken. »Ich könnte dir dabei helfen, wenn du mir Geld dafür gibst. Magnolie oder irgendeine andere leuchtende Farbe.«
»Ja, an so etwas hatte ich auch schon gedacht. Das Zimmer sieht bereits jetzt heller aus. Alles, nur keinen rotgoldenen Samt. Wie zum Teufel kann man nur auf eine solche Idee kommen?«
Eine Weile arbeiteten sie schweigend weiter. Rachel stellte das Radio an. James Blunt trug ein trauriges Lied vor.
»Er hat eine großartige Stimme, findest du nicht auch?«
»Ich mag Robbie Williams«, meinte Charlene.
Rachel zuckte zusammen, als ihr Handy klingelte, denn sie wurde selten angerufen. Wenn es nicht der verdammte Anton war, könnte es Madeleine sein. Sie wünschte sich fast, dass es Madeleine war. Aber welche Ausrede sollte sie vorbringen, dass sie nicht zurückgerufen hatte?
»Gehst du nicht dran?«, fragte Charlene.
Rachel fischte das Handy aus ihrer Tasche und presste es ans Ohr. »Ja?«
Eine kurze Pause. »Ist da die Mutter von Sascha?«
»Ja.« Rachel wartete einen Augenblick. »Und wer sind Sie?«
»Das ist unwichtig.« Die Stimme war sehr leise, klang aber jung und hatte einen starken Akzent.
»Einen Augenblick«, unterbrach Rachel barsch. »Ich muss erst von dieser verdammten Leiter steigen und das Radio abstellen.«
Charlene eilte zum Radio, und es wurde still.
»Okay, jetzt geht’s.«
»Hören Sie, es geht mich eigentlich nichts an …« Ein Zögern folgte. Rachel stand regungslos auf der Leiter, das Telefon ans Ohr gepresst. »Vergessen Sie anschließend diesen Anruf, das ist besser für Sie und Sascha, ja?«
Rachels Magen krampfte sich zusammen. »Ja, in Ordnung. Was ist los?«
»Ich weiß, dass jemand einen Pass für Sascha besorgt hat. Ich glaube, er gibt ihn Anton … das nächste Mal, wenn er kommt. Nur damit Sie Bescheid wissen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Rachel. Sie rang nach Atem.
»Ja.«
»Wer sind Sie?«
»Ein Wort zu Anton, und ich bin tot. Haben Sie verstanden? Kennen Sie Uri?«
»Ja, den kenne ich.«
»Gut, dann wissen Sie ja Bescheid.«
Rachel stolperte die Leiter hinunter und rannte in die Küche, das Telefon am Ohr. »Hören Sie. Ich weiß es wirklich zu schätzen, dass Sie mich angerufen haben, wirklich. Ehrenwort. Ich vergesse dieses Gespräch sofort. Sie können mir vertrauen.«
»Ich mag Ihren Kleinen. Er tut mir leid.«
Rachel dachte angestrengt nach. »Hören Sie. Ich habe Geld. Würden Sie etwas für mich tun, wenn ich Sie dafür bezahle?«
»Nein.« Die Stimme wurde härter. »Was kann ich schon tun?«
»Sie könnten den Pass an sich bringen und verbrennen – oder noch besser, ihn mir in einem Umschlag schicken.« Sie machte eine Pause. »Wissen Sie, was Anton vorhat? Er will mir meinen Jungen wegnehmen. Er hat es
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