Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
seiner Mutter hier in seiner Tasche. Er zog den Zettel heraus, beugte sich darüber und begann, die Zahlen vorzulesen.
»Warte, Kleiner. Ich hole einen Stift«, flüsterte Tatjana. »Und sag deinem Vater nichts davon, Sascha. Es ist unser Geheimnis.«
Er beobachtete sie, wie sie in einer Schublade herumsuchte. Sie trug purpurrote Jeans, die ihren Hintern zu eng umspannte. Das Wasser kochte seit Ewigkeiten, denn der Kessel stellte sich nicht von selbst ab und sprudelte immer heftiger. Hinter der geschlossenen Tür hörte er wieder die Männer, diesmal scharf und laut. Er lauschte ihren Stimmen und dem blubbernden, kochenden Wasser und versuchte, das ferne Wimmern des verhungernden Hundes zu überhören.
Rachel hatte die Füße auf den Couchtisch gelegt. Die Fenster standen weit offen. Der Regen vom Vortag war abgeklungen, und die Sonne schien. Sascha war im Garten und baute ein Raumschiff aus Schachteln, die er auf der Straße gefunden hatte.
Seit ihrem Wochenende in Tenby waren ein paar Wochen vergangen, und die Beziehung zu Anton hatte sich entspannt. Er hielt sein Wort, ein netter und normaler Dad zu sein, selbst wenn sie sich weigerte, mit ihm Sex zu haben. Er kam zweimal pro Woche, um Sascha zu sehen, und eines sonnigen Nachmittags fühlte sie sich sicher genug, um ihn Sascha für einen Ausflug mitnehmen zu lassen. Aber seither war Sascha in sich gekehrt und weigerte sich, zur Schule zu gehen. Sie konnte sich noch so große Mühe geben, er rückte nicht damit heraus, was los war. Früher hatte er liebend gern einen Nachmittag mit seinem Daddy verbracht. Es musste etwas vorgefallen sein. Er hatte kaum auf Wiedersehen zu Anton gesagt, als dieser ihn brachte, und war dann sofort aufsein Zimmer gerannt und hatte sich geweigert, mit ihr zu reden. Heute schien er sich ein wenig gefangen zu haben. Er war mit einem Tacker, Kordel und Klebeband beschäftigt und summte sogar zuweilen vor sich hin.
Charlene saß in dem Knautschsessel, nippte an ihrem Kaffee und verschlang das mit Gurke und Käse belegte Brot, das Rachel für sie geschmiert hatte. Rachel und Sascha hatten Charlene am Morgen gesehen, als sie zum Einkaufen den Hügel hinuntergegangen waren. Sie hatte bei der Bank gestanden und Obdachlosenzeitschriften feilgeboten. Das arme Ding sah so niedergeschlagen aus, dass Rachel sich ihrer erbarmte und ihr Essen und Geld anbot.
Charlene vertilgte den letzten Bissen ihres Brotes, dann strich sie die Krümel von ihrem T-Shirt und ließ sie auf den Boden fallen. Sie war es offensichtlich nicht gewohnt, zu Besuch zu sein. Trotz der Hitze trug sie ihre Pudelmütze – vielleicht war das ja jetzt modern –, und ihre Tasche mit den Zeitschriften lag zu ihren Füßen, als wäre sie damit verheiratet.
»Was genau soll ich für dich tun?«, fragte sie.
Rachel machte eine vage Geste in Richtung Wohnzimmer. »Ich dachte, wir könnten das zusammen machen. Als ich klein war, habe ich öfter zugesehen. Mein Vater war Maler, aber bei uns ging es zu wie beim Schuster, dessen Kinder barfuß laufen müssen. Mein Vater hat für Gott und die Welt gearbeitet, aber seine eigene verdammte Tapete klebt schon seit über zwanzig Jahren an der Wand.«
Sie stand auf, ging in die Diele und schleppte den Dampfablöser an, den sie in der Garage neben der mit Farbe beklecksten Leiter ihres Vaters entdeckt hatte. »Ich kann den Anblick dieser Tapete nicht mehr ertragen. Meine Mutter fand sie wahnsinnig elegant. Wahrscheinlich war sie das sogar einmal. Jetzt kommt es mir vor, als würde ich in einem heruntergekommenen indischen Restaurant wohnen.«
»Ich habe so etwas noch nie gemacht«, gestand Charlene. »Wie viel zahlst du mir dafür?«
»Was hältst du von zwanzig Pfund für den Nachmittag, und hinterher etwas zu essen?«
»Okay.«
»Du dampfst, und ich kratze, und dann wechseln wir. Es ist kinderleicht.«
Rachel sauste die Treppe hinauf, um kurze Hosen und ein altes Hemd anzuziehen. Ihre Handtasche nahm sie mit. Sie traute Charlene nicht ganz, noch nicht. Es war schwierig, das Mädchen einzuschätzen. Beim Renovieren des Hauses würde sie Gelegenheit haben, sie kennenzulernen und festzustellen, ob sie ihr Sascha anvertrauen konnte.
Rachel war fest entschlossen, sich eine Arbeit zu suchen, als Kellnerin, Putzfrau oder dergleichen. Sie hatte zwar noch Geld auf der Bank, selbst die mysteriösen fünftausend waren nach wie vor da, aber sie wusste aus Erfahrung, dass Geld irgendwann zu Ende ging. Jemand hatte ihr einmal gesagt, dass sie
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