Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
ist grau, und er hat so einen Schwanz«, er zeichnete mit dem Finger einen Kringel in die Luft. »Seine Pfoten sind richtig groß.«
Tatjana warf einen kurzen Blick zum vorderen Zimmer und meinte dann: »Komm. Wir schauen nach.«
Sie verließen das Haus durch die Küchentür. Hinter dem Haus war der Garten noch größer als vorn. Er war voll mit Dingen, die er nicht kannte, und dann waren da noch einige Autos und Motorräder. Am Ende des Gartens stand eine große Holzkiste. Als hätte sie Angst, öffnete Tatjana die Klappe nur ein klein wenig. In der Kiste stand Napoleon und blinzelte ins Sonnenlicht. Er sah verändert aus, mager und traurig. Mit einem Satz warf ei sich auf Sascha.
»Pst, pst, pst«, machte Tatjana. »Pass auf, dass er nicht bellt.«
Sascha rollte sich mit seinem Hund auf dem Boden und weinte lautlos. Aber es war wichtig, leise zu sein. Das konnte er der Stimme des Mädchens entnehmen.
Nach wenigen Minuten drängte sie: »Gut. Wir sperren ihn wieder ein.«
»Nein, das will ich nicht.« Sascha klammerte sich an Napoleons Hals. »Warum muss er da drinnen sein?«
Tatjana löste die Arme des Kindes vom Hals des Hundes. »Bitte, Sascha. Wenn er bellt, bekommt er Prügel. Wir tun ihn wieder in die Kiste, schön leise.«
Sascha ließ Napoleon los. Er küsste ihn mehrmals auf den Kopf und lockte ihn zurück in die Kiste. Ohne ein weiteres Wort schlössen sie die Klappe, sicherten sie mit einem Stock und gingen zurück in die Küche, wo der Pirat gerade sein Schwert gegen einen anderen Kerl gezogen hatte. Sie setzten sich an den Tisch und sahen zu.
»Möchtest du eine Tasse Tee?«
»Nein.«
»Einen Kaugummi?«
»Nein danke.«
Es gab nichts mehr zu sagen. Tatjana kicherte noch nicht einmal mehr über den Film. Die Türglocke läutete, neue Männerstimmen waren zu hören. Onkel Uri kam und holte einige Flaschen Bier aus dem Kühlschrank. Auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer zauste er wieder Saschas Haar. »Magst du Tatjana?«
»Ja.«
»Schön.«
Er ließ sie allein. In der Küche war es heiß, und Tatjana meinte, die Hitze sei nicht zum Aushalten, sie müsse die Tür öffnen. Geräusche von draußen drangen zu ihnen herein, und Sascha kämpfte mit den Tränen. Er wusste, dass er nicht heulen durfte. Tatjana sah ihn an und setzte Wasser auf. Dann nahm sie eine Nagelfeile und manikürte sich ausgiebig die langen Nägel. Auf jedem Nagel war ein silberner Stern gemalt.
»Wie ist deine Mutter?«, fragte sie ohne aufzusehen.
Sascha zuckte die Achseln. »Hübsch.«
»Ist sie nett zu dir?«
»Ja.« Er wurde plötzlich zornig. »Sie hat mir Napoleon geschenkt. Er gehört mir. Meine Mum hat ihn extra für mich gekauft.«
Tatjana legte die Nagelfeile hin und sah zum Fernseher. Der Film war fast zu Ende, das konnte er sehen, aber das Ende interessierte Sascha nie, es entsprach ohnehin nicht der Wirklichkeit.
»Womit fütterst du Napoleon?«, fragte er.
Tatjana runzelte die Stirn, sah ihn aber nicht an. »Ich wusste nicht, dass es dein Hund ist. Dein Onkel sagt, er beißt. Nur ei füttert ihn.«
»Ehrlich, er beißt nicht. Du kannst ihm die kleinen braunen Hundekuchen geben. Die sind für junge Hunde. Die mag er. Kannst du ihm bald welche geben?«, bettelte Sascha.
Tatjana warf einen kurzen Blick zur Tür. »Ja, ja, mach ich«, beschwichtigte sie ihn mit gedämpfter Stimme. »Ich kaufe Futter für junge Hunde.«
»Versprich es mir.«
»Ja, ich verspreche es dir.« Tatjana sah ihn mit ihren leuchtend blauen Augen geradewegs an.
Sascha hörte die Männer nicht mehr. Oben rief eine Frau zweimal etwas, es klang wie ein Name, nachdrücklich, wie wenn Mum ihn zum Essen rief.
»Sascha«, sagte Tatjana leise. »Vielleicht rufe ich dich eines Tages an, um Hallo zu sagen. Würdest du dich darüber freuen?«
»Ja«, meinte er verwundert. Es war ihm zwar ernst, aber es kam ihm seltsam vor, irgendwie nicht richtig. Mum würde ans Telefon gehen. Zwischen Mums und Daddys Leben gab es keine Verbindung. Man sollte nichts durcheinandermischen.
»Weißt du deine Telefonnummer auswendig?«
Er schüttelte den Kopf. Aber dann fiel ihm etwas ein. In seiner Tasche war ein mit einer Sicherheitsnadel befestigtes Schildchen. Mum sorgte dafür, dass er es immer bei sich trug. »Für den Fall, dass du dich verläufst, mich brauchst oder mit mir reden möchtest, wenn du mit Papa unterwegs bist …«
Er steckte die Hand in die Tasche und fand das Schildchen. Plötzlich fühlte er sich richtig groß. Er hatte die Handynummer
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