Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
wartete, leicht in sich zusammengesunken, ein Mann. Er sah sie an, rührte sich aber nicht. Wie durch ein Wunder kam gerade ein Taxi in rascher Fahrt die Straße entlang. Beim Anblick der gelben Lampe auf seinem Dach fühlte sie sich erleichtert. Sie wäre beinahe auf die Straße gerannt, um es anzuhalten.
Als sie im Taxi in Sicherheit war, drehte sie sich noch einmal um. Die Erscheinung stand noch immer regungslos an derselben Stelle.
14. Kapitel
S ind wir bald da, Daddy?«
»Ja, mein Sohn. Nur noch etwa drei Kilometer. Hier, lenk du mal.«
Angespannt durch ihm übertragene Verantwortung, beugte sich Sascha zu seinem Vater und packte das Steuerrad mit beiden Händen. Die Straße verlief geradeaus, und Daddy behielt für alle Fälle einen Finger am Steuer. Sein Daddy ließ ihn immer solche Sachen machen, Mum nicht. Zuerst hatte sie ihn nicht mit Daddy fahren lassen wollen, aber Daddy war so nett zu ihr gewesen, dass sie schließlich zugestimmt hatte. Sie hatten versprechen müssen, zum Abendessen wieder zurückzukommen, und Daddy hatte ihr sein Portemonnaie dalassen müssen.
Nach einer Weile übernahm Daddy wieder das Steuer. Er bog in eine andere Straße ab. Bald standen auf beiden Seiten Häuser. Sie waren rot, nicht gelb wie in Bath. Die Straße wechselte oft die Richtung, und sie kamen an einem Park mit Schaukeln und Wippen vorbei; allerdings spielten keine Kinder dort. Dann erreichten sie Fabriken, und am Ende einer Reihe von Parkplätzen hielt Daddy vor einem Haus. Im Garten parkten Autos, zwei weiße, ein blauer Lieferwagen und ein Auto, dessen Dach abgenommen war. Das gehörte Onkel Uri, Sascha erkannte es sofort. Sein Magen krampfte sich zusammen, teils vor Aufregung, teils vor Angst. Napoleon war bei Onkel Uri, hatte Daddy das nicht gesagt? Vielleicht waren sie ja hergekommen, um Napoleon abzuholen.
Sie stiegen aus dem Auto und gingen zum Haus. Uri öffnete die Tür. Daddy küsste ihn auf beide Wangen.
»He, Sascha«, begrüßte ihn der Onkel und öffnete die Arme. »Mein Lieblingsneffe. Ich habe dich schon Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Du bist ein richtiger junger Mann geworden.«
Er hatte ziemlich große Angst vor Onkel Uri, umarmte ihn aber trotzdem.
»Eines Tages wohnst du bei Onkel Uri, ja?«, neckte er Sascha und zauste sein Haar unter dröhnendem Lachen. »Onkel Uri kann keine Kinder machen, auch wenn er es noch so oft mit hübschen Mädchen versucht.«
Sascha wand sich vor Unbehagen. »Nein, danke, meine Mama ist …«
Aber niemand achtete mehr auf ihn. Sie gingen ins Haus und setzten sich in ein Zimmer mit großen Couchen. Onkel Uri hatte eine neue Freundin, Tatjana. Sie war anders als die alte. Ihr Haar war lang und blond, und sie war hübscher und jünger. Onkel Uri hatte sie offensichtlich sehr gern. Er packte sie am Hintern, und sie kicherte. Sie war nett, denn sie brachte Sascha eine Cola und einen Marsriegel. Als die Männer sich unterhalten wollten, nahm Tatjana ihn mit in die Küche. Dort setzten sie sich an den Tisch und sahen sich eine DVD mit Piraten in der Karibik an. Eine Weile war er ganz glücklich mit Tatjana, seiner Cola und dem Marsriegel. Sie kicherte viel und redete komisch, ein bisschen wie Daddy. »Sieht der nicht gut aus?« Sie deutete auf einen der Piraten.
»Kommst du aus der Ukraine?«
»Nein, Baby. Ich komme aus Russland.«
»Ach!« Er hatte keine Ahnung, wo das war. Sie sah wie eine Prinzessin aus. Noch hübscher als das Mädchen im Film. »Tatjana«, sagte er, um den Namen auszuprobieren.
»So ist es richtig«, lobte sie ihn. »Du sprichst ihn großartig aus.«
Zwei weitere Mädchen kamen in die Küche. Sie unterhielten sich, und er verstand kein Wort. Eine von ihnen stellte den Wasserkessel an und schepperte laut mit den Tassen im Küchenschrank. Wütend herrschte Tatjana sie an. Die Mädchen warfen einen Blick auf den Fernseher, und eine legte die Hand auf den Mund. Tatjana gestikulierte vor ihrem Gesicht herum, schrie noch etwas, und das andere Mädchen drückte seine Zigarette im Spülstein aus. Sie mögen Tatjana vermutlich nicht, dachte er. Sie war hübscher als die anderen.
»Tatjana«, fragte Sascha, nachdem die Mädchen weg waren, »ist hier ein Hund?«
Sie sah ihn nachdenklich an. »Was für ein Hund?«
Er überlegte. Napoleon gehörte nicht zu den Rassen, die er kannte, wie etwa Jack Russells oder Rottweiler. »Er ist so groß.« Er breitete erst die Arme aus und zeigte dann mit der Hand, wie weit Napoleon vom Boden reichte. »Sein Fell
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