Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Schale mit den Cornflakes. »Ist nicht so wichtig, Mum. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»Das glaub ich nicht.«
Sascha stand rasch auf. Sie versuchte vergeblich, ihn am Arm zu packen. Der arme kleine Teufel. Er musste offenbar für Anton büßen, für seine Tat, für seinen sonderbaren Akzent, für sein Aussehen, für sein Auto. Und sie, auf deren Stirn wahrscheinlich Ex-Nutte eintätowiert war, machte die Dinge wohl auch nicht besser, wenn sie vor dem Schultor stand und qualmte wie ein Schlot. Ihr Gespräch mit Mr Bodell und der hochnäsigen Miss Bailey war äußerst unangenehm gewesen. Sie war überrascht, nein, empört gewesen, als sie merkte, dass die Lehrer Sascha für seine Entführung mitverantwortlich machten. Was war normaler, als dass ein aufgeregtes Kind aus einer Laune heraus die Zunge herausstreckte? Wofür hielten die sich, verdammt noch mal? Für Heilige? Sascha hatte ganz recht. Schule war scheiße – war das früher nicht auch ihre Meinung gewesen?
In Saschas Zimmer hatte sie einige Zeichnungen gefunden, die er anscheinend vor ihr versteckt hatte. Es schienen Abbilder seiner Gemütsverfassung zu sein, und sie war entsetzt gewesen. Blutende Hunde, verunglückte Autos, brutale Szenen streitender Männer und Frauen – keine Sonne, Blumen oder Lebkuchenhäuser. Eigentlich sollte sie die Bilder einmal jemandem zeigen. Madeleine würde wahrscheinlich wissen, was sie zu bedeuten hatten. Madeleine? Nein, die Idee war nicht gut.
Sie sah auf die Küchenuhr. Jetzt würde mit Sicherheit schon jemand in der Schule sein. Sie nahm ihr Handy. Zwar würde sie Mr Bodells Verachtung über sich ergehen lassen müssen, aber das würde sie nicht davon abhalten, ihm noch einmal einzuschärfen, dass niemand, noch nicht einmal der liebe Gott persönlich, ihren Sohn aus der Schule abholen durfte.
15. Kapitel
M adeleine lag mit aufgestütztem Ellbogen auf dem Bett. In einer Ecke des Raumes stand ein halbfertiges Bild auf einer Staffelei. Das Gesicht des dreizehnjährigen Kenny Carlisle junior sah sie vorwurfsvoll mit seinem einen fertigen Auge an. Das andere war erst angelegt, die Pupille fehlte noch. Es war zu dumm, dass sie den arroganten Bengel mit der platten Nase nicht ausstehen konnte, aber seine Mutter hatte schon das halbe Honorar bezahlt, deshalb musste Madeleine das Porträt fertig malen.
Sie ließ ihre Aufmerksamkeit wandern. Die Glastüren standen offen und gaben den Blick auf ihren wild wuchernden Garten frei: Pflanzen, Geräusche, Gerüche und ständige Bewegung. Kater Titchy mit den sechs Zehen saß wie eine Statue am Rand des Teiches. Er lauerte darauf, eines der Schildkrötenbabys zu erwischen. Aus den angespannten Muskeln seines kleinen Körpers sprach eine stoische Hartnäckigkeit. Titchy verbrachte den größten Teil seiner Tage in der Hoffnung, dass eine der kleinen Schildkröten die Insel in der Teichmitte verlassen würde und in Reichweite seiner Pfoten geriet. Madeleine machte sich jedoch keine Gedanken, sie kannte ihn, er würde mit einer Schildkröte gar nichts anzufangen wissen.
Eigentlich sollte sie jetzt aufstehen, aber sie fühlte sich zu elend. Wenn sie an die letzten Momente mit Mikaela dachte, schrumpfte alles in ihr zu einem schreienden Punkt, einem schwarzen Loch zusammen. Beinahe ebenso schlimm war der Gedanke an Mama in der Anstalt. Sie war ganz und gar verrückt geworden, das war nur allzu offensichtlich gewesen. Und dann die quälende Erinnerung an das Haus in Bath mit den autgeschlitzten, zerbrochenen Möbeln und den verschmierten Wänden! Wie lange Mama wohl schon krank gewesen war? Wie lange Mikaela das Chaos aushalten musste? Auf einem Altar in der Küche verwesten die verstümmelten Kadaver kleiner Tiere, und auf dem Fußboden waren die Aschehäuflein kleiner Feuer zu sehen. Gott sei Dank, dass er gefliest war. Mama hätte leicht das Haus in Brand setzen und sich und Mikaela töten können. Der Schock über den Zustand des Hauses hatte entscheidend dazu beigetragen, dass sie sich Forbush und seinen Leuten gebeugt hatte. Geschickt hatten diese ihre Schuldgefühle ausgenutzt und aus ihrer Scham über ihre Familie und ihr Empfinden, als Mutter versagt zu haben, Kapital geschlagen.
Sie taugte aber auch nicht viel mehr als Tochter. Sie hatte Mama im Stich gelassen und war in ihre Heimat zurückgekehrt. Mama mochte ihrer Hilfe bedürfen, aber die Verantwortung für sie überstieg ihre Kräfte. Sie wusste, dass sie in Bath zerbrochen wäre. Und was hätte sie schon
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