Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
aber sie konnte einfach nicht vergessen, dass es Nevilles Eigentum war. Es gehörte ihrer Mutter noch nicht einmal zum Teil, dafür hatte er gesorgt. Neben den anderen Gefühlen, die sie zerrissen, war sie von einem großen Zorn auf Neville erfüllt. Ihr Vater hatte sein wahres Gesicht gezeigt, und sie war sich nicht sicher, ob sie ihm jemals verzeihen würde. Es ärgerte sie, von ihm abhängig zu sein. Seit drei Jahren wohnte sie nun hier, und er bezahlte die Rechnungen. Das musste aufhören. Sie brauchte einen Ortswechsel, wenn sie die Vergangenheit vergessen, sie ganz und gar hinter sich bringen und ein neues Leben beginnen wollte. Plötzlich war sie entschlossen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie würde nicht in Nevilles Schuld stehen, nie im Leben.
Eine halbe Stunde später saß sie auf ihrem Fahrrad. Irgendwo in Watson oder Grinnell hatte sie Schilder gesehen, auf denen »Zu vermieten« gestanden hatte. An die genauen Straßen konnte sie sich nicht erinnern, aber sie würde sie finden. Nachdem sie eine Stunde lang die breiten Lehmstraßen auf und ab geradelt war, gab sie auf. Selbst in den schmalen Seitenstraßen fanden sich keine Vermietungsangebote. Die Touristensaison näherte sich, und sie erkannte mit Schrecken, dass ihr Vorhaben möglicherweise doch nicht so einfach sein würde.
Die Sonne ging unter, und sie beschloss, zum Mallory Square zu fahren, um etwas zu trinken, den Jongleuren zuzusehen und den Musikanten zu lauschen. Vielleicht würde sie ja Bekannte treffen. In Key West kannte jeder jeden. Mit Sicherheit würde jemand wissen, wer einen Schuppen zu vermieten hatte. Aber dann merkte sie, dass ihr der Sinn nicht nach Menschen stand, und sie bog an der Eaton Street nach rechts ab statt nach links. Vielleicht morgen. Faul radelte sie in der Abendhitze in Richtung Palm Avenue und blickte hinaus aufs Meer. Sie fuhr den Eisenhower Drive hinunter und verlangsamte die Fahrt, als sie in der Houseboat Row in Garrison Bight Marina angekommen war. Als Kind hatte sie die Hausboote, die wie Puppenhäuser aussahen, ganz besonders geliebt. Sie lehnte ihr Fahrrad gegen das Geländer des Gehsteigs und wanderte auf den Steg hinaus. Wenn sie hier eine Bleibe fände! Kein Haus konnte schrulliger sein als diese bunten, eigenwilligen Häuser auf den Kähnen. Sie überboten einander an Exzentrik. Seite an Seite schaukelten sie leise auf den Wellen. Eine junge Frau hängte auf einem wackeligen Balkon Wäsche zum Trocknen auf. Ein alter Mann goss eine große Topfpalme auf seinem Achterdeck. Etwas weiter entfernt auf einem Kahn mit einem winzigen ovalen zweistöckigen Haus aus türkisfarbenen Schindeln kläffte ein kleiner Hund an der Kette sie wütend an.
»He, du«, sie beugte sich mit ausgestreckter Hand zu ihm. Der erzürnte Köter wäre am liebsten ins Wasser gesprungen, um ihr die Hand abzubeißen, dessen war sie sich sicher. »Nun beruhige dich, mein Liebling«, gurrte sie und erboste den Hund dadurch noch mehr.
In einem kleinen runden Fenster tauchte ein Kopf auf. Ein junger Mann wollte dem Lärm auf den Grund gehen.
»Herr im Himmel«, stieß er aus.
Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und betrachtete blinzelnd das Gesicht ohne Körper. Auch wenn sechs Jahre ins Land gegangen waren, konnte kein Zweifel daran bestehen, wem es gehörte.
»Forrest?«, flüsterte sie.
In diesem Augenblick gab der Haken nach, der die Kette des Hundes hielt. Feiner Sägemehlstaub schwebte zu Boden.
***
Sie schlug die Augen auf. Wie jeden Morgen fiel ihr erster Blick auf das Foto von Forrest auf ihrem Nachttisch. Er saß im Liegestuhl auf dem Hausboot, und auf seinem Schoß lag ein Hund. Der Hund gehörte dem Nachbarn, aber wie die meisten Kinder und Tiere hatte sich der struppige Kerl von Forrest angezogen gefühlt. Er hatte das Hausboot als sein Territorium betrachtet und streng bewacht.
Das Gesicht ihres Mannes war dem Wind zugewandt, sein blondes Haar vom Wind zerzaust, und in den Augenwinkeln hatte er Krähenfüße von der Sonne. Sein bis auf eine Badehose nackter Körper war vom Wetter gegerbt und beinahe zu mager, aber eigentümlich anmutig. Sie hatte alles an ihm angebetet. Ihr allererster Eindruck hatte sich nie verändert, obwohl sie ihn in sehr jungen Jahren kennengelernt hatte. Er war ein wunderschöner, großartiger Freund und Geliebter gewesen.
Ein jäher Schmerz in der Brust veranlasste sie, den Arm auszustrecken und das Foto umzudrehen. Wie viele Male in den vergangenen Jahren hatte sie sich zusammenreißen
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