Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
und gemahnen müssen, dass ihr Mann tot war. Jede Spur von ihm war verschwunden, sein Körper von Tausenden von Lebewesen verzehrt, seine Knochen aufgelöst. Dass sie das noch immer nicht glauben wollte, war wie ihre unvernünftige Hoffnung, Rachel Locklear könnte ihre Tochter sein, Teil einer Neurose, von der sie sich schon längst hätte heilen müssen. Wahrscheinlich würde sie jedem ihrer Patienten in einer solchen Lage empfehlen, sich ein neues Leben aufzubauen. Vielleicht war es an der Zeit, das Foto wegzulegen, um ein für alle Mal ein Zeichen zu setzen, dass Forrest nicht mehr lebte. Zwar hatte es Gordon gegeben, aber wie konnte sie jemals wieder jemanden wirklich lieben? Sie sah alle Männer wie durch ein Prisma, in dem Forrests Tugenden wie Millionen Sterne strahlten.
Gordon! Durch den Nebel von Übermüdung und übermäßigem Alkoholgenuss fiel ihr plötzlich wieder ein, was vor wenigen Stunden geschehen war; der Vorfall am Grabungsort, ihre Taxifahrt nach Hause und die lange heiße Dusche, die sie genommen hatte, um Gordon abzuwaschen – und den Ekel, den sie vor sich selbst empfand. Was hatte sie sich eigentlich dabei gedacht, mit einem bekennenden Sexsüchtigen ungeschützten Verkehr zu haben? Es war auch nicht typisch für Gordon, seine Kondome zu vergessen. Sie war erbost über die Show, die er vor ihr abgezogen hatte. Trotz seiner schwülstigen Liebeserklärung war es letzten Endes nur ein Fick gewesen. Gut, sie war kein kleines Mädchen mehr und trug selber Schuld. Sie hatte genauso viel Lust darauf gehabt wie er. Ohne groß darüber zu reden, hatten sie beide aus schierer Lust gehandelt, wie es manchmal vorkommt, wenn man betrunken und unbesonnen ist.
Ein weiteres Bild tauchte wieder vor ihr auf. Die Gestalt, die in der Dunkelheit kauerte, irgendein Mann, der ihnen von der Milsom Street bis zu der Baustelle gefolgt war. Wenn nicht das Taxi aufgetaucht wäre, hätte er ihr leicht die Handtasche entreißen und flüchten können, ohne dass ihn jemand aufgehalten hätte. Vielleicht war er über Gordon hergefallen. O Gott!
Sie griff nach dem Telefon auf ihrem Nachttisch und wählte Gordons Nummer, die sie noch auswendig wusste. Niemand nahm ab. Nach sechsmaligem Läuten sprang der Anrufbeantworter an.
»Gordon«, sagte sie und bemühte sich, einen sachlichen Tonfall anzuschlagen. »Ich wollte nur mal nachfragen. Vor dem Haus, das wir uns gestern angesehen haben, lungerte ein verdächtiger Kerl herum. Schick mir doch bitte eine SMS oder eine E-Mail, um mir Bescheid zu geben, dass alles in Ordnung ist.« Sie zögerte. »Ich habe viel zu tun in den nächsten Tagen, deshalb kann ich nicht mit dir reden, aber ich wünsche dir einen schönen Urlaub.«
Sie leerte ihre Kaffeetasse und sah aus dem Fenster über den Garten hinweg. Der Smog, der sich so häufig in dem Kessel staute, in dem die Stadt lag, gab selbst der Luft ein verschmutztes Aussehen. Ihre Palme passte nicht in dieses unwirtliche Klima. Madeleine sehnte sich nach ihrer Heimat, nach der Insel ihrer Geburt. Sie verspürte einen jähen Impuls, alles zu verlassen, alles zu verkaufen und in ihre Heimat zurückzukehren. Sie würde Rosaria mit Medikamenten vollpumpen, in einen Flieger nach Miami setzen und in ein Heim für verrückte Kubaner stecken, wo man Orischas anbetete, Samba und Rumba hörte und nur Spanisch sprach.
Beim Gedanken an die Heimat nahm sie Forrests Foto und stellte es wieder richtig hin. Zum Teufel! Warum sollte sie sich die Freude seiner Gesellschaft versagen?
***
Sie ließ die Augen über die Tausende von Mangroveninseln um sie herum schweifen. »Mein Gott, Forrest, ich kann nur hoffen, dass du dich hier auskennst. Was passiert, wenn wir auf Grund laufen?
Es kann Wochen dauern, bis man uns findet. Bis dahin sind wir verdurstet, und die Geier haben das Fleisch von unseren Knochen gepickt.«
»Ja, gnädige Frau. Die Truthahngeier sind ganz schön gemein.«
»Nein, ehrlich …«
»Du musst deine Navigationskenntnisse auffrischen, mein Schatz.« Er steuerte das kleine Boot um eine der Inseln herum. »Das den Gezeiten ausgesetzte Ufer erkennt man an der Farbe. Es ist braun und schlammig. Dazwischen siehst du das Hell- und Dunkelblau der Fahrrinne. Du bleibst in der Fahrrinne. So einfach ist das.«
»Ja, klingt logisch«, räumte sie ein.
»Und kannst du die langbeinigen Vögel sehen, die da im Wasser waten?«, fragte er mit einem Seitenblick auf ihre Beine. »Die sagen dir, dass du dich von diesen Stellen fernhalten
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