Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
groß ausrichten können? Mama war unerreichbar, durch die Medikamente völlig betäubt. Sie hatte sich vorgenommen, herauszufinden, ob es möglich war, Mama nach Key West zu holen. Sollte es ein Heim geben, das Kranke in ihrem Zustand aufnahm, konnte Neville die Kosten übernehmen.
Sie war erst seit einer Woche wieder auf Key West, und es gab viel zu tun. Zunächst einmal musste sie Geld verdienen (Kenny Carlisle junior). Um sie herum auf dem Bett lagen Fotos, einige von Mikaela, einige von Mama, aber keine von Neville. Den hatte sie mit der Nagelschere ausgeschnitten. Es wäre besser gewesen, die Aufnahmen wegzulegen, das war ihr klar. Sie verlängerten nur ihre Qualen. Bald würde sie innerlich so weit sein, und dann würde sie aufstehen und ihr Leben fortsetzen. In ein oder vielleicht zwei Tagen. Sie döste eine Weile vor sich hin, dann hörte sie irgendwo in der Nähe einen fürchterlichen Lärm.
»Mach die verdammte Tür auf«, schrie Gina. Sie schlug energisch mit den Fäusten gegen das Holz. »Ich werde so lange weiterhämmern, bis du aufmachst.«
Madeleine verzog das Gesicht. Sie hatte völlig vergessen, dass sie sich mit Gina in der Bar am Strand von South Beach verabredet hatte. Ihre Freundin war hinter dem kubanischen Barmann her, der dort arbeitete. Er war Tänzer in einer berühmten spanischen Flamenco-Gruppe gewesen und hatte den entsprechenden Körper. Noch bekannter war er allerdings wegen seiner ultrastarken Margaritas.
Der Lärm hörte nicht auf. Gina wusste nicht, dass Madeleine nicht im Haus, sondern im Atelier wohnte.
»Nun führ dich nicht so schwachsinnig auf. Mach schon, Madeleine, öffne die verdammte Tür.«
»So eine Scheiße!« Madeleine sprang aus dem Bett und rannte ins Freie. »Halt die Klappe, Gina«, schrie sie. »Sei still, sonst komme ich in einen schlechten Ruf.«
»Ruf? Als Nonne?«, rief Gina zurück und kam um das Haus herum.
»Nein, als Ärgernis erregendes Partygirl mit fluchenden Freundinnen.«
»Wann warst du denn das letzte Mal auf einer Party?« Gina betrachtete Madeleines nachlässige Erscheinung mit einem Stirnrunzeln. »Und wann hast du das letzte Mal was Richtiges angehabt?«
»Okay, okay, ich ziehe mich an«, beschwichtigte Madeleine ihre Freundin und stapfte zurück ins Atelier.
Sie zog ein altes bedrucktes Baumwollkleid über. Durch das Fenster sah sie Gina, die sich auf die Schaukel am Teich gesetzt hatte und an ihren Zehennägeln pulte. Gina hatte zugenommen, seit Madeleine die Mexikoreise abgebrochen hatte, um nach England zu fliegen. Aber ihre korpulente, mit Leichtsinn gepaarte Sinnlichkeit zog die Männer an wie die Fliegen.
»Hast du was zum Trinken da?«, schrie sie.
Madeleine rannte zu ihr. »Nun halte doch endlich die Klappe, Gina.«
Gina kniete am Teich. »Was ist denn das? Schildkröten?«
»Ja, Schildkröten.«
Gina stand auf und musterte Madeleine, als hätte sie eine ansteckende Krankheit. »Nun zieh um Gottes willen etwas Anständiges an. Das Kleid hast du mit zehn oder elf bekommen. Ich kann mich noch an den Tag erinnern.«
»Tut mir leid wegen heute Morgen. Ich hatte unsere Verabredung völlig vergessen.«
Gina zog diplomatisch die Schultern hoch. »Du hättest sowieso nur gestört. So dünn, wie du bist, kann man dich ja nirgendwo mit hinnehmen.«
Madeleine ging durch die Hintertür in die Küche. Gina folgte ihr. Der Kühlschrank enthielt wenig mehr als Bier, zwei Granola-Riegel und fauliges Obst.
Nachdem Gina einen Blick hineingeworfen hatte, fragte sie: »Kommst du nun mit oder nicht?« Sie nahm sich ein Bier und suchte nach einem Öffner. »Ich wollte das neue Lokal mit den Meeresfrüchten ausprobieren, wie heißt es noch, Mescla Marina.«
»Nee. Heute nicht. Vielleicht ein anderes Mal.«
Gina goss sich das Bier in die Kehle. »Hör zu, Kleines. Willst du eine Weile bei uns wohnen? Mama hat es vorgeschlagen. Sie würde dich sehr gern aufnehmen. Ich weiß nicht, was mit dir los ist, aber es gefällt mir nicht. Wenn ich es wäre, die eine Woche im Bett verbringt … Aber ausgerechnet du! Nun mach schon, Mad. Reiß dich zusammen.«
»Komm morgen um sechs wieder, Gina. Da bin ich angezogen, und wir gehen ins Mescla Marina zum Abendessen. Auf meine Rechnung. Als Wiedergutmachung für heute.«
Nachdem Gina wie ein Wirbelsturm hinweggefegt war und in der Küche einen starken Duft nach Eau de Cologne und ein wenig von ihrem Körpergeruch hinterlassen hatte, wanderte Madeleine durch das Haus. Sie war hier geboren und liebte es,
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