Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
ab.
»Schick sie herein, Sylvia.«
»Mrs Hartley-Wood hat gerade angerufen, dass sie ein paar Minuten später kommt. Sie fährt noch im Kreis um den Block herum, auf der Suche nach einem Parkplatz.«
»Okay, Sylvia. Danke.«
Sie warf sich in ihren Stuhl. Ja, John hatte recht, sie brauchte eine Therapie. Sie lächelte plötzlich. Esperanza tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Die strenge Esperanza würde sie aufrütteln.
***
Ihre Leibesfülle war enorm, und um ihren Kopf lagen mehrere Reihen eng geflochtener Zöpfe. Afrikanisches Blut floss in ihren Adern, denn sie stammte direkt von Sklaven ab. Wenn es stimmte, was die Leute sagten, musste sie uralt sein, und doch war sie noch immer von einer fremdartigen Schönheit. Ihr langes purpurfarbenes Kleid schmiegte sich eng an ihre kräftigen Kurven. Sie war mit Goldschmuck behängt und hatte sogar einen goldenen Schneidezahn. Ihre Fingernägel waren lang und blutrot. Trotz ihrer Fülle hatte sie deutlich eine Taille, und wie die meisten Kubanerinnen bewegte sie sich, als höre sie die Melodie eines Rumbas.
Esperanza war eine Curandera, eine Santera, die sich besonders in der Heilkunst und mit Kräutern auskannte. Sie war von der ersten bis zur letzten Insel der Keys für ihre Fähigkeit bekannt, Krankheiten zu erkennen und zu heilen, vor allem solche, die von übel gesinnten Menschen verursacht wurden. Madeleine war dreizehn gewesen, als sie Esperanza zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hatte sie der alte Mann, der kurz darauf eines qualvollen Todes starb, mit dem bösen Blick verhext. Rosaria hatte Esperanza zu Hilfe gerufen.
Esperanza hatte sich nicht verändert, obwohl seither fünfzehn Jahre vergangen waren. Die Curandera erinnerte sich lebhaft an Madeleine.
»Beinahe hätten wir dich verloren, chiquilla«., sagte sie mit gackerndem Lachen und zerdrückte Madeleine fast, so fest nahm sie die junge Frau in den Arm.
Auch Madeleine lachte, als sie sich an ihren Mann wandte. »Esperanza verdanke ich mein Leben.«
Forrest war überwältigt von der heilkundigen Dame, ihrem Wohnzimmer und der Tatsache, dass die Frau, die er liebte, noch auf Erden weilte, weil Esperanza sie gerettet hatte.
»Esperanza, das ist Forrest, mein Mann.«
Esperanza strahlte Forrest fröhlich an und bedachte ihn mit ihrem goldenen Lächeln, während sie seine Hand packte und kräftig schüttelte.
»Setzt euch, setzt euch«, forderte sie ihre Besucher auf. »Ich lasse einen cafecito bringen.« Sie rief nach einer jungen Mulattin und bat um Kaffee und Bollos. Im Zimmer hingen unzählige Käfige, in denen Vögel untergebracht waren. Sie schnatterten und kreischten schrill durcheinander. Kräuter, Federn, billiger Tand und Flakons hingen von den Balken. Die Bilder der Heiligen und Orischas an den Wänden waren mit bunten Girlanden und Plastikblumen geschmückt. Von den Gemälden dazwischen – naiv in Stil und Komposition – blickten Esperanzas Ahnen und Ahnfrauen steif aus vergangenen Zeiten in die Gegenwart. Überall brannten Kerzen, und die Fenster waren von der Feuchtigkeit der vielen Farne im Zimmer beschlagen. Die Einrichtung bestand aus einer Mischung alter spanischer Möbel, Möbeln aus Treibholz, selbst gezimmerter Möbel und ausrangierter kaputter Rohrmöbel aus Bars. Esperanza thronte wegen ihrer Körperfülle auf einem schrecklich abgestoßenen Zweisitzer von verblichener Eleganz.
Während sie auf den Kaffee warteten, erkundigte sich die Heilerin nach Magdalenas Mutter.
»Mama ist seit acht Jahren krank«, gab Madeleine leise Auskunft. Sie schaffte es nicht, ihr schlechtes Gewissen darüber zu verbergen, dass sie ihre Mutter in England gelassen hatte. »Sie ist in einem sehr schönen Heim und wird sehr gut versorgt.«
»Caramba]«, rief Esperanza aus, setzte sich zurück und verschränkte die kräftigen Arme auf der Brust. »Ich habe mir schon gedacht, dass es mit Rosaria kein gutes Ende nimmt. Sie ist äußerst unvernünftig mit ihren Kräften umgegangen. Das hat sie manches Mal von mir zu hören bekommen. Sie konnte nämlich nicht nur heilen wie ich, sondern auch Krankheiten hervorrufen.« Esperanza schüttelte bedauernd den Kopf. »Sie hat zu jung angefangen. Nachdem sie Kuba verlassen hatte, fehlte ihr die Mutter, die sie hätte anleiten können. Wie ich sie in der Bude in der Duval Street sah, wo sie sich als ausgebildete Santera ausgab und Gott und der Welt ihre Zauberkünste anbot, habe ich mir gleich große Sorgen gemacht. Ich habe sogar ihre Mutter benachrichtigt
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