Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
nicht um Mrs Hartley-Wood«, sagte Sylvia mit merkwürdig erstickter Stimme.
»Danke, Sylvia. Dann schick sie zu mir, wenn sie aufkreuzt!« Madeleine wollte den Hörer auflegen.
»Nein, warten Sie«, murmelte Sylvia. »Es ist Rachel Locklear … Sie ist hier. Sie hat keinen Termin, aber sie besteht darauf, Sie zu sehen. Es sei dringend.« Madeleine hörte gedämpft einen Wortwechsel. »Sie sagt, dass sie sich nicht abwimmeln lässt.«
Madeleine richtete sich auf. »Ja, Sylvia, in Ordnung. Sie soll hereinkommen. Und Mrs Hartley-Wood … sagen Sie ihr, eine Patientin sei bei mir, ein Notfall. Es dauere nicht lange.«
Wenige Sekunden später platzte Rachel ins Zimmer, knallte die Tür hinter sich zu und setzte sich ohne große Umstände in den Sessel, den sie in den vergangenen Wochen – alles in allem waren es sieben – als Patientin eingenommen hatte. Sie trug eine schwarze Hose, schwarze Turnschuhe und ein graues T-Shirt, das einen schmalen Streifen ihrer weißen Haut um die Taille herum frei ließ. Sie hatte abgenommen. Ihr dichtes kastanienfarbenes Haar war gewachsen und ungekämmt. Sie sah müde aus und ihr Blick wirkte gehetzt. Madeleine musterte sie besorgt.
»Ich bin nicht aus freien Stücken hier«, brach es aus Rachel heraus.
»Guten Tag, Rachel.«
Die junge Frau wandte auf einmal den Blick ab und schien den Tränen nahe. Für Madeleine war das etwas völlig Neues.
»Ich brauche Ihre Hilfe. Sie müssen mir helfen.«
Madeleine wartete. Sie fröstelte. Es musste sich um ein ziemlich großes Problem handeln, wenn Rachel zu ihr gekommen war. Rachel schwieg.
»In Ordnung, ich tue, was ich kann, aber Sie müssen einen Termin ausmachen.« Sie blickte auf die Uhr an der Wand. »Ich erwarte gleich eine Patientin.«
Rachel schien sie nicht gehört zu haben.
»Denken Sie ja nicht, dass ich Ihnen dankbar bin«, sagte sie mit aufflammendem Zorn. »Wenn Sie mir helfen können, was ich bezweifele, dann war’s das. Dann sind wir quitt, Sie und ich. Quitt, verstehen Sie? Sie können Ihr Leben fortsetzen und glücklich sein, dass Sie das Ihre getan haben, und glauben Sie ja nicht, dass Sie ewig Schuldgefühle haben müssen.«
Madeleine runzelte die Stirn. »Was um alles in der Welt soll denn das heißen?«
»Es heißt, dass Sie mir etwas schuldig sind, Madeleine.«
Madeleine sah sie verwirrt an. »Was denn, Rachel?«
Rachel war einen Augenblick still, auf ihrem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Misstrauen und Feindseligkeit. »Sie wissen ganz genau, was Sie mir schulden.«
Madeleine war sprachlos. »Ich fürchte, nein.«
»Sie haben es schon vor Wochen erraten. Ich weiß es.«
Madeleine konnte nicht antworten. Ihre Gedanken rasten.
Rachel verschränkte die Arme über der Brust. »Lassen wir den ganzen Scheiß, Mutter!«, schnaubte sie. »Du hast es in unserer letzten Sitzung erraten, als du mich rausgeschickt hast, damit du dich über meine Handtasche hermachen konntest. Du hattest es wahrscheinlich schon begriffen, als ich dir versehentlich mein wahres Alter verraten habe.«
Madeleine war zu betäubt, um auch nur ein einziges Wort zu äußern. Es war also doch wahr … Sie schüttelte den Kopf als würde ihr das helfen, ihre Fassung wiederzugewinnen. »Langsam«, flüsterte sie. »Du sagst, dass du meine Tochter bist? Mikaela?«
»Jetzt bin ich Rachel, verstanden? Und tu nicht so, als würdest du mich nicht kennen.«
Einen Augenblick lang sahen sie einander an. Madeleine in einem Zustand des Schocks, Rachel trotzig.
»Ich schlage dir ein Geschäft vor«, fuhr Rachel fort. »Du hilfst mir, und anschließend sind wir quitt. Wäre das nicht in deinem Sinne?«
»Quitt? Wieso?«
»Du hast doch mit Sicherheit ein schlechtes Gewissen, weil du dein unschuldiges Baby bei einer Irrsinnigen abgeladen hast, der es einen Kick gab, die Haustiere ihrer Nachbarn zu töten. Auf ein vornehmes College in Florida bist du gegangen, nicht wahr? Um dich nicht mit einem greinenden Balg abplagen zu müssen. Aber damit warst du mich noch immer nicht wirklich los. Du erinnerst dich doch bestimmt daran, dass du einen Urlaub unterbrechen musstest, um ein paar Adoptionsurkunden zu unterschreiben, mit denen du deine fünfjährige Tochter Fremden überlassen hast.« Rachels Stimme wurde hart. »Egal, was du an Schuldgefühlen hast, hier ist deine Chance, alles wiedergutzumachen.«
Auf einmal verstand Madeleine alles. Rachels Zorn, ihre Wut – sie waren von Anfang an vorhanden gewesen, sie waren keine Folge der Therapie.
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