Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Haar gerauft, geweint, mich übergeben, Dünnschiss gehabt und was es sonst noch alles gibt. Ich werde wohl wegen Mordes im Gefängnis landen, und Sascha kommt in ein entsetzliches Heim. Aber solange ich kann, halte ich mich an dem Funken Hoffnung fest, dass es doch noch einen Ausweg aus dieser Situation gibt. Also, Madeleine«, bettelte sie, »jetzt ist dein kühler Kopf gefragt.«
Madeleine schloss einen Moment lang die Augen und holte tief Luft. Schock hielt sie umfangen wie Eiswasser. Trotz der Hitze hatte sie eine Gänsehaut und zitterte. Sie hatte sich vorgestellt, dass es eine große Freude wäre, ihre Tochter zu finden. Aber was sie gerade vernommen hatte, hätte schlimmer nicht sein können. Ein Alptraum. Sascha war nicht entführt, Rachel war nicht vergewaltigt oder geschlagen, erpresst oder bedroht worden. Sie hatte einen Mord begangen.
Aber war es wirklich Mord gewesen?
»Wie ist es passiert? Wie hat es sich abgespielt?«
»Er war gekommen, um uns zu holen. Wenn ich ihm Sascha überlassen hätte, wäre ich eventuell verschont geblieben, aber das habe ich nicht übers Herz gebracht. Deshalb bin ich auf ihn losgegangen«, berichtete sie sachlich. »Er hat mir eine Sekunde den Rücken zugekehrt, und ich habe seinen Kopf mit einem Aschenbecher zu Brei geschlagen. Von seinem Gesicht ist beinahe nichts mehr übrig geblieben.«
Ach Gott. Es war noch nicht einmal Selbstverteidigung. Madeleine barg ihr Gesicht in den Händen, um den erneuten Schock zu überwinden. Rachel brachte sie wieder zu sich.
»Ich habe daran gedacht, mich zu stellen, aber ich schaffe es nicht wegen Sascha. Wenn ich gleich zur Polizei gegangen wäre, aber da war ich in einem Schockzustand, und nun ist es zu spät.«
»Wann, Rachel, wann ist es passiert?«
»Gestern Abend.«
»Aber Rachel«, rief Madeleine, »da ist es doch noch nicht zu spät für die Polizei.«
»Was habe ich dir gesagt?«, stieß Rachel wütend hervor. »Geh ja nicht zur Polizei! Sprich noch nicht einmal das Wort aus!«
»In Ordnung, in Ordnung.«
Rachel sprang auf, ging rastlos auf und ab und hielt die Stirn mit ihren langen Fingern umklammert. »Wir müssen die Leiche loswerden. Wenn uns das gelingt und Anton seinem Bruder nicht meine Adresse gegeben hat, besteht eine Chance, dass ich damit durchkomme. Hast du mich verstanden, Madeleine? Du hast ein Auto. Wir müssen die Leiche wegschaffen. Sein Bruder weiß dann zwar, dass etwas passiert sein muss, aber nicht notwendigerweise, dass sein Verschwinden etwas mit mir zu tun hat. Und da die beiden sich illegal in diesem Land aufhalten, ist es unwahrscheinlich, dass er ihn als vermisst meldet.«
»Wo ist Sascha jetzt?«
»Warum?« Rachel sah sie stirnrunzelnd an. »Er ist mit Charlene unterwegs. Sie sehen sich einen Film an.«
»Und wer ist diese Charlene?«
»Eine junge Obdachlose, die mir manchmal hilft.«
»Haben die beiden etwas gesehen?«
Rachel legte die Hände vors Gesicht und stöhnte. »Ich glaube nicht. Ich weiß es aber nicht. Ich muss mir etwas ausdenken, damit ich sie für einige Stunden los bin.«
Madeleine sah aus dem Fenster, während sie gleichzeitig versuchte, sich Rachels wirre Pläne anzuhören. Mittlerweile hatte sich der Himmel verdunkelt, und aus der Ferne drang ein Donnergrollen. Die Wolken hingen so tief, dass sie wie eine Glocke über der Stadt lagen und sich die schwüle Luft immer stärker aufheizte.
Madeleine unterbrach Rachels ausufernden Monolog und erklärte, jetzt nach Hause fahren zu wollen, um sich umzuziehen und später, wenn es dunkel geworden war, wiederzukommen. In der Zwischenzeit sollte Rachel sich darum kümmern, dass sie freie Bahn hatten.
Im Licht des sich verfinsternden Nachmittags schien Rachels Gesicht beinahe geisterhaft durchsichtig zu sein. Ihre Katzenaugen glitzerten im Zwielicht. Madeleine hätte ihre verängstigte Tochter gern in den Arm genommen und ihr versichert, dass alles wieder in Ordnung käme, aber sie wusste, dass das nicht zutraf.
19. Kapitel
R iesige Regentropfen zerplatzten auf Madeleines Windschutzscheibe, als sie in Richtung Stadtzentrum fuhr. Jemand schien mit Wasser gefüllte Ballons über Bath auszuschütten. Die Güsse rüttelten sie auf. Zunächst verlangsamte sie ihr Tempo, dann hielt sie am Straßenrand an. Seit sie den Hurrikan Angelina miterlebt hatte, machten ihr Unwetter Angst. Sie musste daran denken, dass Rachel im Zeichen Changós geboren war, des Orischas von Donner und Blitz. Vielleicht kam Changó ihr in der Not zu
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