Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
gewusst, als sie Rachels Geburtsdatum auf dem Krankenversicherungsausweis gelesen hatte? Im Herzen war sie davon überzeugt gewesen, dass Rachel ihre Tochter war – Nevilles Sicherheit, Johns Gelassenheit, Rachels Leugnen zum Trotz.
Sie stellte das Radio an. Eine infantile Ansagerin plapperte etwas von einem schweren Gewitter und Warnungen vor Überschwemmungen. Madeleine schauderte. Sie hasste Gewitter, sie hasste Überschwemmungen. Der Avon schwoll manchmal bedrohlich an. So wie Bath gelegen war, schien die Stadt Hochwasser geradezu einzuladen, aber dennoch kam es selten dazu. Madeleine stellte das Radio ab, parkte ihren Wagen unweit von Rachels Haus und stieg aus. Ein Mann stand am Wohnzimmerfenster des Nachbarhauses und beobachtete sie. Hatte er nicht auch neulich dort gestanden? Der arme Alte war wahrscheinlich Witwer und wusste sich die Zeit nur dadurch totzuschlagen, dass er das Treiben auf der Straße beobachtete.
Sie läutete. Schwarze Wolken hingen schwer am Himmel. Der heiße, feuchte Wind zerrte an ihrer Bluse.
Rachel machte auf. Ohne ihre Mutter zu begrüßen, inspizierte sie zunächst die Straße, bevor sie Madeleine am Ärmel ins Haus zog. Sie hatte eine kurze Hose angezogen. Madeleine warf einen raschen Blick auf die langen Beine und bloßen Füße ihrer Tochter. Wie vertraut sie aussahen, wie sehr sie den ihren glichen.
Mit der Bemerkung »Viel Zeit haben wir nicht« führte Rachel sie rasch die Treppe hinauf in das karg möblierte Wohnzimmer. Scharlachrote Tapetenreste klebten an kahlen, von Feuchtigkeit und Alter geschwärzten Gipswänden. Verstohlen betrachtete Madeleine das trostlose Zuhause ihrer Tochter und nahm dann wie geheißen auf einem altmodischen braunen Kunstledersofa mit Rissen und Zigarettenlöchern Platz. Ein großes Fenster lud zu einem Blick auf das Panorama von Bath und die grünen Hügel der Umgebung ein, aber der offene Kamin mit seinen hässlichen grünen Fliesen und die verblichenen Vorhänge mit dem schmutzigfarbenen Blumenmuster waren scheußlich.
Rachel ließ sich auf einen Knautschsessel fallen und zündete sich sofort eine Zigarette an. Sie inhalierte tief, mit verzweifelter Miene. »Ich habe Sascha für eine Weile weggeschickt, damit wir uns unterhalten können, aber er kommt bald zurück.«
Madeleine sah sich im Zimmer um.
»Wo ist er?«
Rachel zuckte bei der Frage zusammen. »In der Garage.«
»Was macht er da?«
Rachel runzelte die Stirn. »Hast du Sascha gemeint?«
»Ja, Sascha.«
Rachel lachte schrill, fast aggressiv. Bei dem widerspenstigen Gelächter stiegen Madeleine die Tränen in die Augen.
»Rachel. Es mag nicht der richtige Zeitpunkt sein, um über uns zu sprechen, aber ich weiß, dass du wütend auf mich bist. Du hast ein ganzes Leben lang nicht gewusst …«
»Ach, scheiß doch drauf. Fang jetzt nicht damit an.«
»Okay, Rachel. Verschieben wir das. Was also willst du von mir?«
Eine Weile herrschte Stille. »Es tut mir leid, Madeleine.« Rachels Stimme verriet eher Angst als Wut. »Ich kann wirklich eklig sein, ich weiß. Ich bin einfach völlig am Ende.«
»Dann sprich mit mir.«
Rachel sah sie mit angsterfüllten Augen an. »Zuerst musst du mir etwas schwören. Bei dem Leben von jemandem, den du liebst. Es könnte nämlich sein, dass du mir nicht mehr helfen willst, wenn du erst einmal erfahren hast, was hier passiert ist, und ich könnte das auch verstehen. Aber du musst auf jeden Fall schwören, dass du nicht zur Polizei gehst oder jemandem davon erzählst. Das Leben deines Enkels hängt davon ab.«
Madeleine war sowohl über die düstere Erklärung als auch über die Heftigkeit der Bitte bestürzt. »In Ordnung, Rachel, ich schwöre beim Leben meiner Mutter.«
»Anton liegt in meiner Garage. Tot.« Rachels Gesicht war ohne Ausdruck. »Ich habe ihn umgebracht.«
Madeleine schnappte nach Luft.
»O mein Gott, Rachel, nein.«
»Es ist spontan passiert, aber tief in meinem Inneren habe ich gewusst, was ich tat. Mir blieb keine Wahl. Ich hatte geglaubt, Anton und Uri würden Sascha nicht mitnehmen, wenn ich den Pass in meine Hände bekäme. Aber das war dumm von mir. Es war nur eine Frage der Zeit. Anton wollte mich dazu bringen mitzukommen, er wolle mich dabeihaben, behauptete er, aber ich wusste, welches Schicksal auf mich wartete. Ich habe es in seinen Augen gesehen. Ich bin überzeugt, dass sie mich töten wollten.«
»Ach, Rachel …«
Rachel zuckte ungeduldig mit den Schultern. »Können wir uns das schenken? Ich habe mir das
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