Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
den Toten doch auf eine dieser Wiesen schleppen, die Zäune hatten jede Menge Gatter, ihn unter eine Hecke rollen und dann nichts wie weg. Aber nein, Madeleine fuhr weiter. Hatte sie sich verfahren? Sie kenne eine geeignete Stelle, hatte sie behauptet, hatte ihr aber nicht gesagt, wo. Das könne sie nicht beschreiben. Rachel hatte keine Wahl, sie musste ihr blindlings folgen. Wie war sie nur auf den Gedanken verfallen, Madeleine könnte das Problem besser lösen als sie selbst?
Der Fahrweg stieg weiter an und wurde noch schlechter und enger. Wasserfluten schössen in seinen tiefen Fahrrinnen ins Tal. Zweige zerkratzten die Seiten des Autos. Sie wollte gerade anhalten und Madeleine auf der Handynummer anrufen, die diese ihr kurz vor der Abfahrt gegeben hatte, als Madeleines Auto an einem großen Schild nach links abbog. Rachel starrte durch den Regen. Da stand irgendetwas von ›Forstweg‹ und ›privat‹. Und weiter fuhren sie durch einen dichten Wald, der dunkel und unheimlich war. Nach einigen Kilometern endete er abrupt. Sie hatten eine offene Felslandschaft erreicht, auf der weder Baum noch Strauch wuchs. Die Fahrspur war nun kaum mehr erkennbar. Das Gelände stieg noch immer an. Der Regen ließ etwas nach, aber ein dichter Nebel breitete sich aus und machte es schwierig für Rachel, Madeleines Auto im Auge zu behalten. Als es ein wenig aufklarte, konnte sie erkennen, dass sie durchs kahle Moor fuhren. In der Ferne erhellten Blitze die öde Landschaft. Nach einigen weiteren Kilometern leuchteten Madeleines Bremslichter auf.
Sie sprang aus dem Auto, und Rachel sah sie im Licht ihrer Scheinwerfer. Sie gab ihr ein Zeichen, an einer flachen Stelle anzuhalten und den Motor abzustellen. Rachel stieg aus. Sie hatten das Ende des Feldwegs erreicht.
»Wo zum Teufel sind wir hier?«, fragte sie mit versagender Stimme. »Wir sind seit Stunden unterwegs! War es wirklich nötig, so weit zu fahren?«
Madeleine, deren Haar bereits völlig durchnässt war, antwortete nicht, strahlte aber Entschlossenheit aus. Einen kurzen Augenblick spürte Rachel etwas Undefinierbares in Madeleines Sicherheit, in ihrer ruhigen Autorität. Sie wagte nicht, das Wort Mutter zu denken, aber es kam ihr dennoch in den Sinn. Jemand, der die Dinge in die Hand nimmt, jemand, der alles für einen tut, der einen nicht im Stich lässt. Es war sentimentaler Quatsch, und ärgerlich verwarf sie den Gedanken.
»Bleib hier und rühre dich nicht vom Fleck, egal, wie lange ich brauche. Setz dich in mein Auto«, wies Madeleine sie an.
»In diesem Boot sitzen wir zusammen«, protestierte Rachel schwach.
Madeleine warf ihr einen kurzen Blick zu. »Kann sein. Aber auf eine verwickelte Weise bin ich für das, was geschehen ist, verantwortlich. Lass mich nur machen. Es ist nicht nötig, dass wir das zu zweit erledigen.«
Sie öffnete ihren Kofferraum, entnahm ihm zwei große Plastikbehälter und zwei Plastiktüten, die sie auf den Rücksitz von Antons Auto warf, sprang hinein und startete den Motor.
»Was zum Teufel hast du vor?«, schrie Rachel ihr durch den Regen nach. Sie erhielt keine Antwort. Verwirrt hörte sie, wie Madeleine Gas gab und lospreschte. Der große schwarze Wagen durchquerte den Bach und jagte über das Moor. Er war bald außer Sichtweite, aber Rachel hörte noch einmal den Motor aufheulen. Dann verstummte er. Völlig vom Regen durchweicht, setzte sich Rachel auf den Beifahrersitz in Madeleines Auto. Sie starrte in die Richtung, in die ihre Mutter verschwunden war.
Die Minuten verstrichen. Was verdammt machte die Frau nur? Rachel versuchte sich zu beruhigen. Madeleine würde das Auto mitsamt dem Toten hier irgendwo in der Wildnis stehen lassen, wohingegen sie sich vorgestellt hatte, sie würden das Auto ohne Leiche und Nummernschilder auf dem Parkplatz eines Supermarkts abstellen. Sie wusste nicht, ob Madeleines Idee gut oder schlecht war. Es war sowieso zu spät, um darüber zu streiten. Rachel hatte keine Wahl sie musste Madeleine vertrauen. So wie Madeleine ihr vertrauen musste. Schließlich könnte sie sich hinters Steuer schwingen und auf und davon fahren. Aber sie saßen im selben Boot, und das war etwas, das sie verband, auch wenn sie, Rachel, jede Menge Probleme damit hatte. Zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten vergingen. Der Regen hatte mit neuer Kraft eingesetzt. Was war los? Wo war Madeleine?
Rachel überlegte gerade, ob sie aus dem Auto steigen und Madeleine zu Fuß folgen sollte, als sie plötzlich ein gewaltiges Brausen hörte.
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