Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
Geschlechtsverkehr gehabt hatte.
Madeleine griff in ein Fach in der Tür und reichte ihr ein eingeschweißtes Foto. Rachel hielt es vorsichtig in der Hand und betrachtete den Mann auf dem Bild. Er sah gut aus, ohne jeden Zweifel, und er lächelte, als wüsste er nicht, was Sorgen sind – so viel zum Thema, dass er verzweifelt seine Tochter gesucht habe. Sein Gesicht war so offen. Es verwirrte sie. Leute mit einem solchen Gesicht hatten etwas zu verbergen.
Sie gab Madeleine das Bild zurück, und eine Weile fuhren sie schweigend weiter. Einem Schild war zu entnehmen, dass noch zwanzig Kilometer vor ihnen lagen, als Rachel Madeleines Blick auf sich fühlte.
»Warum auf diese Weise, Rachel?«
»Du meinst, mit dem Aschenbecher?«
»Nein. Ich wollte fragen, warum bist du zu mir in die Therapie gekommen? Wenn du mich hättest kennenlernen wollen, hättest du das doch tun können? Du kennst doch die Stelle, die Adoptivkindern hilft, ihre natürlichen Eltern zu finden. Du hast den Gedanken, mich kennenzulernen, abgelehnt.«
»Abgelehnt?«, stieß Rachel aus. »Ausgerechnet du benutzt dieses Wort!« Sie hielt inne, wohl wissend, dass sie Madeleine tatsächlich eine Erklärung schuldete.
»Ich wollte mich über dich informieren, und zwar ohne das ganze Melodrama einer Mutter-Tochter-Wiedervereinigung. Das Problem war, dass du eine zu gute Therapeutin bist. Nach einer Weile bist du mir unter die Haut gegangen. Ich habe mir gedacht, da ich sowieso ein Vermögen für die Farce hinblätterte, könnte ich auch versuchen, ob du mich von Anton heilen kannst.«
»Ich finde, es war ziemlich pervers, was du mir da angetan hast.«
Rachel lachte schrill. »Da siehst du es. In der Tat! Perversitäten liegen mir.« Sie sah die Frau, die ihre Mutter war, kalt an. »Vielleicht hatte ich eine perverse Rache im Sinn. Ich erinnere mich nämlich doch. Ich erinnere mich an alles.«
»Dann erzähl es mir«, forderte Madeleine sie auf, fuhr in eine Haltebucht und stellte den Motor ab. »Erzähl mir, woran du dich erinnerst.«
»Ich erinnere mich daran, dass ich eine beschissene Angst hatte, daran erinnere ich mich«, fauchte sie.
»Du hast mich bei einer irrsinnigen alten Hexe gelassen – vermutlich bei deiner Mutter.«
»Ja, bei meiner Mutter. Sie war in Wirklichkeit noch jung, jünger als ich es jetzt bin, aber ich kann mir vorstellen, wie erschreckend und verwirrend es für dich gewesen sein muss, mitzuerleben, wie sie dem Wahnsinn verfiel. Es ändert zwar nichts, aber ich hatte keine Ahnung, dass sie krank geworden war. Sie hat dich so innig geliebt, und du hast sie auch geliebt.« Madeleine berührte Rachels Arm. »Hat sie dir wehgetan?«
Rachel schüttelte sie ab. »Mir wehgetan? Machst du Witze? Schau dir doch an, was aus mir geworden ist.« Sie starrte in den Regen. Sascha fiel ihr ein. Auch er war durch den Wahnsinn seiner Eltern verletzt worden. Wer war sie, um den ersten Stein zu werfen?
»Und wie kommt es, dass du so genau über mich und meine Gründe Bescheid weißt, Rachel?«
»Meine Eltern wussten alles über dich.«
Madeleine zog die Brauen zusammen. »Nein, Rachel, das stimmt ganz sicher nicht.« Sie schwieg einen Augenblick, und Rachel hoffte, dass sie nicht wieder von dem Thema anfangen würde. Sie wollte nicht darüber sprechen. Zugegeben, was sie getan hatte, war pervers gewesen. Nur, nachdem sie ihre Mutter im Telefonbuch gefunden und festgestellt hatte, dass sie Psychotherapeutin war, war die Versuchung einfach zu groß gewesen. Ein paar Mal hatte sie Madeleine beobachtet, wie sie die Praxis verließ, und war ihr zu ihrem Haus gefolgt. Als Nächstes war sie aus einer Laune heraus in die Praxis gegangen und hatte sich einen Termin geben lassen. Sie hatte nicht vorgehabt, ihn wahrzunehmen, hatte es dann aber doch getan.
»Ich glaube nicht, dass du dich rächen wolltest«, sagte Madeleine in die Stille. »Ich glaube vielmehr, dass du eine Mutter wolltest. Ich glaube, dass du mich brauchst.«
»Schwachsinn!«
»Ich glaube, du hast mich auf diesem Wege kennenlernen wollen, weil du feige bist. Du hattest nicht den Mut zu einer offenen Konfrontation. Du hast deine skandalöse Vergangenheit vor mir ausgebreitet, um mich zu testen, um herauszufinden, ob ich dich jemals als der Mensch akzeptieren würde, der du bist. Und dann hast du festgestellt, dass ich dich tatsächlich akzeptiert habe. Ich habe dich gemocht und Respekt vor dir gehabt, obwohl du mich ständig schockieren und abschrecken wolltest. Als du merkest,
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