Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
verwahrte sie in einem Pappkarton ihren Schrein für Oyá, die Orischa der Winde. Sie trug die Schachtel ins Wohnzimmer, holte den Schrein heraus und stellte ihn auf den Couchtisch. Das kleine Mahagonikabinett war mit zwei Türen versehen. Madeleines Herz setzte einen Schlag aus, als sie sie öffnete. Im Innern befand sich ein Bild der heiligen Therese von Avila, an dem eine kleine schwarze Puppe festgenagelt war – eine Darstellung der beiden Gesichter Oyás. Beide waren vom Ruß einstiger Rituale geschwärzt.
Sie hatte den Schrein mitgenommen, als sie Key West den Rücken kehrte, hatte sich jedoch geschworen, ihn nie wieder zu öffnen. Seit der Hurrikan Angelina ihrem Mann das Leben genommen hatte, hasste Madeleine Oyá, da sie ihre Orischa für die Katastrophe verantwortlich machte. Beim Anblick des geliebten Bildes fühlte sie sich jedoch gestärkt. Oyá war die Trägerin der weiblichen Kraft und eine Befürworterin der Magie. Sie war furchtlos und kämpfte als einzige Gottheit im Krieg mit, hatte aber auch mit ihrem Geliebten Chango teil an der Kraft von Wind, Donner und Feuer. Sie allein war die Hüterin der Gräber. Bei ihrem Anblick wurde Madeleine bewusst, dass Oyá ihr zu Hilfe gekommen war und sie geleitet hatte. Vielleicht hatte ihre Orischa die Versöhnung gesucht. Sie hatte das Unwetter gebracht und ihr ein Grab und das Feuer geschenkt.
Als der Morgen dämmerte und Licht durch die Wolken brach, stellte sie den Schrein wieder fort und räumte ihr Wohnzimmer auf. Endlich war sie in der Lage, die vergangenen achtundvierzig Stunden aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. Sie würde nicht länger darüber brüten, was sie getan hatte, und sie würde auch nicht mehr darüber nachgrübeln, dass ihre Tochter sie ablehnte. Wenn es so sein sollte, dann würde sie es akzeptieren. Sie fühlte sich gestärkt. Ihre Sinne waren geschärft, sie wusste, was sie wollte.
Sie kochte sich noch eine Kanne Kaffee und machte sich daran, im Kopf eine Liste der Dinge zusammenzustellen, die sie erledigen musste. Sie würde einen Immobilienmakler anrufen, der das Haus verkaufen sollte. Ihr Auto würde sie ebenfalls veräußern oder Neville zurückgeben. In der nächsten Woche würde sie ihren Patienten mitteilen, dass sie die Behandlung nicht länger fortsetzen konnte. Es war entsetzlich brüsk, sie so einfach sitzen zu lassen, aber sie war nicht in der Stimmung, lange zu warten. Sie musste Abonnements kündigen und geplante Treffen absagen. Am schlimmsten würde es sein, Rosaria und Neville zu gestehen, dass sie das Land verlassen würde. Es war schrecklich, sie im Stich zu lassen. Sobald sie in Key West war, würde sie sich nach einem Heim für Rosaria umsehen. Mama würde sich natürlich weigern und behaupten, dass sie auf ihren Mann warten müsse (jetzt, da er von dieser Frau befreit war). Es würde nicht einfach werden, eine Entsprechung für Setton Hall zu finden, aber Rosaria würde eben notfalls ihre Ansprüche senken müssen.
Es läutete an der Tür. Sie fuhr zusammen. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass es erst kurz nach sieben war. Obwohl sie kaum bekleidet war, öffnete sie.
Mit hängenden Schultern und völlig durchnässt stand Rachel vor ihr.
»Rachel! Was zum Teufel …« Sie packte den Arm ihrer Tochter und zog sie ins Haus. »Ich hole dir ein Handtuch. Geh da rein.« Sie zeigte zum Wohnzimmer.
Sie rannte die Treppen hinauf, und tausend Gedanken jagten ihr durch den Kopf. Was mochte passiert sein? Es musste sich um etwas Schlimmes handeln, sonst wäre Rachel nicht hier. Nicht nach dem Abschied von gestern Morgen, nicht nach der Nacht davor. Sie zog Jeans an, packte ein Handtuch und ein altes Sweatshirt und kam mit beklommener Miene wieder nach unten.
Rachel stand vor der Kreuzigung.
»Hast du das gemalt?«
»Ja.«
»Nun weiß ich, von wem er es hat.«
Madeleine blieb neben ihr stehen und betrachtete das Bild. »Wer? Was willst du mit deiner Bemerkung sagen?«
»Grausige Bilder«, erläuterte Rachel leise. »Sascha. Er ist sehr begabt, aber manchmal malt er die schrecklichsten Dinge.«
»Bestimmt bringt er damit seine Ängste zum Ausdruck. – Wie hast du mein Haus gefunden?«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir einmal bis hierher gefolgt bin. Damals wollte ich sehen … Ach, ist egal.«
»Was ist passiert, Rachel? Was hat dich hergebracht?«
Abrupt drehte Rachel sich um. Madeleine fühlte, wie Angst sie durchbohrte, und zitterte unfreiwillig. Sie legte Rachel das Handtuch über die Schultern
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