Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
schwankte leicht auf ihrem Barhocker und hielt sich an der Theke fest. Der Barmann beobachtete sie mit dezenter Aufmerksamkeit. Er näherte sich, nahm die Flasche aus dem Kübel und schenkte ihr nach. Sie hätte jetzt etwas Stärkeres gebrauchen können. Es fehlte nicht viel, und sie hätte ihren Vater ermordet.
»Du hast mehr als eine Gelegenheit gehabt, mir das zu sagen, du Schuft«, fauchte sie. »Wie konntest du mir das jahrelang vorenthalten? Wo du doch wusstest, wie sehr ich mich danach sehnte, sie zu finden! Selbst nach Forrests Tod hast du den Mund nicht aufgemacht!«
Neville legte ihr die Hand auf die Schulter. »Ich hatte jede Menge Gründe, Madeleine. Ich wette, deine feine Tochter hat dir nicht erzählt, dass sie eine billige kleine Nutte ist oder war. Das Risiko konnte ich einfach nicht eingehen. Trapp riet mir, mich bedeckt zu halten. Lassen wir mal den Vater beiseite, aber eine Frau mit ihrer Moral hätte mich wahrscheinlich erpresst. Und das wäre mein Ruin gewesen.« Er schüttelte sie. »Hörst du mich, Madeleine? Ich habe ihnen Geld gegeben, verdammt noch mal. Selbst nachdem der Alte gestorben war, habe ich Trapp angewiesen, weiterhin Geld auf ihr Konto zu überweisen. Ich unterstütze sie. Zählt das denn gar nicht?«
Madeleine war wie betäubt. Sie konnte nur mit Mühe begreifen, was ihr Vater getan hatte.
»Das hast du dir alles mit Forbush ausgedacht, was? Wie viel hast du ihm bezahlt, damit er mich zur ungeeigneten Mutter erklärt?«, schrie sie, ohne sich einen Deut um den Barmann oder die Geschäftsleute zu kümmern. »Und später? Es gab reichlich Gelegenheit, meinem Kummer ein Ende zu setzen. Du wusstest, wie gern Forrest und ich sie gefunden hätten. Was du getan hast, ist verabscheuungswürdig. So viel Leid, nur um dein verdammtes Image, deinen dämlichen Ruf zu retten.«
Endlich einmal sah Neville besorgt drein. »Du vergisst die ganze Zeit, dass sie sich entschlossen hatte, keinen Kontakt mit dir aufzunehmen.«
Madeleine schlug mit der Faust auf die Theke. »Du hast sie verkauft! Du hast meine Tochter verkauft!«
Neville wühlte in seinen Taschen nach Geld. Er warf einige Banknoten auf die Theke.
»Gehen wir«, sagte er leise.
Sie bahnten sich den Weg durch Harrods hinaus in die Sonne. Egal was er ihr noch hätte erzählen können. Madeleine war nicht mehr daran interessiert. Es war alles viel zu klar. Er hatte sie untergehakt und ließ sich von ihr führen.
»Nur noch eine Frage, mein Liebes«, schnaufte Neville. »Warum ziehst du ausgerechnet jetzt nach Florida, wo du deine Tochter gefunden hast? Klär mich doch bitte einmal darüber auf.«
Sie hielt an, wandte sich zu ihm und zischte: »Ich habe dich vorhin gefragt, ob du ihr helfen würdest. Sie ist in großer Gefahr. Ich verlasse England, damit ihr nichts passiert.«
Neville dachte einige Sekunden über Madeleines Antwort nach. »Jemand, der so lebt wie sie, wird immer Ärger haben.«
Wütend sah sie ihn an und sagte scharf: »Es geht um das Leben meiner Tochter, Neville. Sie hat einen siebenjährigen Sohn, dessen Leben ebenfalls auf dem Spiel steht. Hast du begriffen, was ich sage? Ich hatte dich gefragt, ob du ihr hilfst, ob sie bei dir unterschlüpfen darf, wenn es sein muss, aber ich sehe, dass es ein Fehler war.«
Neville war schockiert. »Von einem Sohn hast du bisher kein Wort gesagt.« Er blinzelte. »Es gibt also endlich einen männlichen Nachfahren in dieser verfluchten Familie? Wie ist er?«
»Der Kleine begleitet mich nach Florida, Neville.«
»Ach ja?« Neville sah sie lange an. »Gut. Hör zu. Wenn deine Tochter ein Dach über dem Kopf braucht, werde ich tun, was ich kann.«
Sie sah ihn fragend an. »Darf ich Rachel deine Telefonnummer geben?«
»Ja, Madeleine. Gib ihr meine Nummer.« Unbeholfen strich er ihr über das Haar. »Kannst du mir verzeihen, mein Mädchen?«
Der Verkehr brauste an ihnen vorbei, während sie an der Straßenecke standen und sich hilflos anstarrten. Neville sah auf einmal sehr alt aus. Sie musste ihm verzeihen. Was auch immer er getan hatte, Madeleine wusste, dass sie sich ebenso schuldig gemacht hatte wie er.
Sie legte die Arme um die füllige Mitte ihres Vaters und begann zu weinen. Neville drückte sie fest an sich. Vielleicht, dachte sie, vielleicht ist es schließlich doch möglich, alles zu vergeben.
22. Kapitel
R achel stand in der kleinen Diele ihres Hauses und wartete auf das Taxi. Sie warf einen Blick in den Spiegel. Sie hätte für ihr Vorhaben nicht
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