Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
wie ein Schiff zwischen den Warengondeln durch. Sie kamen an den Blumen, dem Obst und dem Gemüse vorbei und betraten die Abteilung mit dem Fleisch und dem Fisch.
»Schenken wir uns das Café. Ich habe Lust auf Austern. Du auch?« Neville wartete nicht auf Madeleines Antwort, sondern dirigierte seine Tochter sicheren Schritts in Richtung der Austernbar.
Sie setzten sich an die Theke, und Neville bestellte einen Henriot Rosé, ohne auf die Champagnerkarte zu schauen. Er hatte das offensichtlich schon öfter gemacht. Madeleine wagte nicht, nach dem Preis des Göttertrunks zu fragen, aber sie würde natürlich mittrinken. Warum nicht, ein letztes Glas mit ihrem Vater …
»Mittwochs male ich normalerweise«, begann Madeleine lächelnd, »und nun sitze ich hier in London und hebe einen mit meinem alten Vater.«
»Wenn du nichts dagegen hast, würde ich lieber nichts von deinem Maltag hören«, entgegnete er.
Sie sah zu, wie der Barmann den Korken aus der Flasche zog. Er goss den schäumenden rosa Champagner in sehr hohe dünne Gläser.
»Sei nicht so empfindlich, Neville«, wies sie ihn zurecht. »Du hast sechzig Jahre lang gemalt. Ich würde es entsetzlich finden, wenn ich nicht mehr mit dir über Kunst sprechen könnte. Du bist doch immer mein Mentor gewesen.«
Lachend packte er das Glas – er schien es problemlos zu sehen – und nahm einen kräftigen Schluck, ohne auf Madeleine zu warten. »Wir sind sowieso ganz anderer Auffassung, Madeleine. Obwohl ich einräumen muss, dass mir dein Sujet gefällt. Das weißt du. Und Talent hast du auch, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Du brauchst meinen Rat nicht.«
»Es könnte aber doch sein, dass ich deinen Rat brauche, Neville. Ich hänge die Psychotherapie an den Nagel und werde nur noch malen.«
Neugierig wartete sie darauf, wie er reagieren würde, aber Neville schien nur beiläufig interessiert zu sein.
»Kein schlechter Gedanke, Mädchen. Gut bist du, daran besteht kein Zweifel. Setze den Ruhm des Namens Frank fort.«
»Neville«, sagte sie ungeduldig. »Es fällt mir auf, dass du mir nie eine Frage stellst.«
»Worüber hast ausgerechnet du dich denn zu beklagen?«, fragte er gereizt. »Du hast nicht die geringste Ahnung, wie mit zumute ist. Ich werde nie wieder malen können, und kaum bin ich alt und blind, gibt meine Frau mir den Laufpass. Sie bekommt keinen Scheißpenny von mir. Nicht, wenn ich es verhindern kann.«
»Es fällt mir auf, dass du mir nie eine Frage stellst«, wiederholte Madeleine.
»Okay.« Neville drehte sich mit einem übertriebenen Seufzer zu ihr hin. »Was zum Teufel soll ich dich fragen?«
Nun stand sie vor der Wahl.
Entweder verbrachte sie zwei vorhersehbare Stunden mit ihrem berühmten Vater bei erhabener, aber inhaltsleerer Konversation, verspeiste Austern, trank Champagner, lachte zu laut über seine müden Witze und bedauerte ihn, wenn er betrunken und weinerlich wurde. Das wäre eine Art, sich an ihn zu erinnern.
Oder sie teilte ihm mit, dass sie das Land verlassen und wahrscheinlich nie zurückkommen würde.
Sie nahm einen Schluck. »Neville, ich habe ein paar Fragen an dich. Und ich muss dir auch etwas mitteilen.«
»Bitte«, sagte er mit einem Blick auf einen Teller Austern, die ein anderer Gast bestellt hatte. »Schieß los.«
»Ich gehe davon aus, dass du mir das Haus in Key West vermachst, ja?«
»Ich bin noch nicht tot, wenn du gestattest.«
Sie hatte weder die Zeit noch die Geduld, um ihn weitschweifig zu besänftigen. »Aber das Haus vermachst du mir, ja?«
Er ließ sich Zeit, bevor er antwortete: »Eines Tages vermutlich, ja.«
»Neville, ich bin dein einziges Kind, zumindest weiß ich von keinen anderen Kindern.«
»Dann nimm das verdammte Haus«, sagte er ziemlich laut. Madeleine vermied es, die Leute anzusehen. Es war so schon schlimm genug.
»Gut. Ich ziehe nämlich in Kürze nach Key West, und das Haus muss gründlich überholt werden.«
»Ich schätze, du erwartest, dass ich auch dafür noch aufkomme«, sagte er eisig. Scheinbar hatte er nicht mitbekommen, dass seine Tochter sich anschickte, auf die andere Seite der Erde zu ziehen.
»Nein, das nicht, aber ich muss eine Menge investieren und wollte wissen, wo ich stehe.«
»Was soll das eigentlich? Ist das hier ein Geschäftstermin? Du hast gerade noch gesagt, du bist nach London gekommen, um mit deinem alten Vater einen zu heben.« Er wandte sich zu dem Barmann hin, schnippte mit den Fingern und bestellte sich einen Teller Austern.
Sie
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