Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
anderes: Ihre Mutter ist am Telefon.«
»Meine Mutter?« Mama rief sie sehr selten an, und in der Praxis hatte sie bisher nur einmal angerufen. »Gut. Stellen Sie sie durch, Sylvia.«
»Mama, que pasa?«, fragte sie besorgt. »Geht es dir gut?«
Rosarias starker kubanischer Akzent klang merkwürdig abgehackt und atemlos durch das Telefon. »Geh nach Hause, mi hija, geh nach Hause und schließ die Türen ab.«
Madeleine fragte sich, ob sie sich auf eine anstrengende Debatte einlassen oder einfach sagen sollte, ja, sie werde nach Hause gehen. Sie wollte nicht aus dem Gleichgewicht gebracht werden, bevor sie eine Patientin empfing. »Gut, Mama, ich werde es tun, wenn du es für das Beste hältst.«
»Pedrote hat am Abend zu mir gesprochen und mir gesagt, ich solle die Kaurimuscheln werfen, um eine Botschaft zu empfangen.«
»Aha.«
»Das habe ich getan, und die Botschaft war eindeutig. Heute ist ein gefährlicher Tag für dich, mi hija. Hörst du, was ich sage? Eine fremde Person … eine fremde Person will sich in dein Leben drängen …« Ihre Stimme wurde leiser, und dann hörte man plötzlich ein Klicken. Es klang, als hätte ihr jemand den Hörer aus der Hand genommen und aufgelegt. Sie war bestimmt ins Schwesternzimmer gegangen und hatte sich das Telefon geschnappt.
Madeleine verharrte einen Moment, den Hörer in der Hand. Wie geistig klar Mama geklungen hatte. Das war doch eigentlich gut. Sie schüttelte ihr Unbehagen ab und drückte auf die Taste, die Sylvia anzeigte, dass sie die Patientin reinschicken konnte.
Sie ließ rasch noch einen prüfenden Blick durch den Raum schweifen. Die Papiertücher lagen an ihrem Platz – ein Muss für alle Sitzungen, vor allem für die erste. Die Stühle befanden sich an der richtigen Stelle, und ihre Notizen über andere Patienten hatte sie weggeräumt. Sie schob sich die widerspenstigen Locken aus dem Gesicht und legte noch schnell etwas Lipgloss auf. Dann klopfte die Patientin an die Tür.
»Guten Tag, Sie sind sicher Rachel Locklear«, sagte Madeleine, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, und reichte der Frau die Hand. Deren Händedruck – der erste Hinweis auf die Einstellung, die Herkunft und die Persönlichkeit eines Patienten – war schlaff und hastig. Ein Mensch, der anderen nicht gewohnheitsmäßig die Hand schüttelte. Möglicherweise klassen –, sicherlich erziehungsbedingt.
»Ich bin Madeleine Frank.«
»Ich weiß.«
»Bitte setzen Sie sich.«
Madeleine wies auf den Patientensessel, setzte sich in ihren eigenen Sessel gegenüber und wartete. Sie zog es vor, ihren Patienten Zeit zu geben, statt die Sitzung gleich mit Fragen oder mit dem Versuch zu beginnen, ihnen die Nervosität zu nehmen.
Die Frau war Anfang bis Mitte dreißig, sah etwas hart aus, hatte einen strengen Gesichtsausdruck und einen unsteten Blick. Man sah feine Narben von Pubertätsakne und die verräterischen Konturen eines gebrochenen Nasenbeins. Aber dessen ungeachtet und trotz ihrer Unfreundlichkeit erschien sie merkwürdig attraktiv, um nicht zu sagen schön. Ihr ungewöhnliches Gesicht war herzförmig und fein geschnitten, und ihr Kopf saß auf einem langen, anmutigen Hals. Das volle, kastanienbraune Haar hing ihr bis zur Mitte des Rückens hinab. Am bemerkenswertesten aber waren ihre ungewöhnlichen hellbraunen Augen, die sehr schräg und schmal wirkten und ihr einen listigen, katzenartigen Ausdruck verliehen. Sie war jedoch zu mager. Ihre langen Beine steckten in engen schwarzen Lederjeans und abgeschabten Cowboystiefeln.
»Eigentlich will ich gar nicht hier sein«, eröffnete Rachel Locklear nach einer quälend langen Minute des Schweigens das Gespräch. Und im selben abwehrenden Ton fuhr sie fort: »Und Sie schlagen für diesen Spaß ganz schön zu.«
»Ja, Therapiestunden sind teuer«, bestätigte Madeleine in neutralem Tonfall. »Und Sie sind hier, obwohl Sie das gar nicht wirklich wollen. Wie kommt das?«
Die Frau blickte an die Decke. »Naja, eine Sozialarbeiterin, die ich kenne, hat darauf bestanden, dass ich das hier versuche.«
Madeleine enthielt sich bewusst eines Kommentars, aber Rachel Locklear blickte sie trotzig an. Sie erwartete offensichtlich, dass sich Madeleine dazu äußerte. Im Hintergrund jammerte Nora Nettle, und Madeleine fluchte still in sich hinein.
»Sie hat gesagt, dass bei mir eine Schraube locker ist und ich zu einem Seelenklempner gehen soll, um meinen Kopf untersuchen zu lassen.«
Aber klar doch, Sozialarbeiter würden so etwas zu dir
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