Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
sah sogar angeekelt aus. Offenbar um sich abzulenken und ihre Fassung wiederzugewinnen, spreizte Rachel die Hände auf dem Schoß und betrachtete sie. Sie hatte lange, schmale Finger mit kurzen, unlackierten Nägeln. Einen Moment später lehnte sie sich zurück und fuhr sich durch ihr üppiges Haar. Dabei entblößte sie vernarbte, entstellte Ohrläppchen. Sie bemerkte, dass Madeleine ihre Ohrläppchen beäugte, und ließ rasch wieder das Haar darüber fallen.
Sie starrte aus dem Fenster, möglicherweise um Madeleines prüfendem Blick auszuweichen, und fuhr fort: »Er weiß nichts vom Tod meines Dads und dass ich das Haus geerbt habe … und das Geld. Er hat noch nie außerhalb von London gewohnt und kennt Bath nicht. Es ist mir gelungen, alles vor ihm geheim zu halten, bis die gerichtliche Bestätigung durch war und Sascha und ich uns nach hier verdrücken konnten.«
Wieder folgte ein langes Schweigen. Rachel blickte Madeleine zwischendurch eindringlich an, um dann wieder fast zornig wegzublicken.
»Wollen Sie mich nicht etwas fragen?«, platzte sie schließlich heraus.
»Wenn Sie das möchten. Aber ich höre lieber, was Sie von sich aus mit mir teilen wollen.«
»Teilen!«, schnaubte Rachel. »Wir reden, wir teilen nicht!«
Die Frau hat recht –, dachte Madeleine. Es ist ein lächerlicher Ausdruck.
»Und hören Sie mir auf mit Gefühlen und all dem anderen Schwachsinn«, fuhr Rachel fort. »Ich will wissen, was ich tun soll.«
Madeleine unterdrückte ein Lächeln. Bei dieser Lady musste sie fraglos auf ihre Klischees aufpassen.
»Gut, Rachel. Hier ist eine Frage: In welcher Situation wären Sie gern in, sagen wir mal, einem Jahr?«
Wieder funkelte Rachel sie an, um dann fast verlegen auf ihre Hände zu blicken. »Tja, also gut … wie die Dinge jetzt stehen, mit dem Haus und dem Geld … Das könnte vielleicht ein neuer Anfang für mich und Sascha sein. Ich bin an dem Punkt, an dem ich wirklich versuche, reinen Tisch zu machen. Ich würde meinem Jungen gern so etwas wie eine normale Erziehung bieten, wo wir jetzt ein eigenes Zuhause haben.« Sie hob den Kopf und sah Madeleine direkt an. »Deshalb möchte ich in einem Jahr in meinem schönen Haus sitzen, die roten Samttapeten von den Wänden abgezogen und meine neuen IKEA-Möbel aufgestellt haben und darauf warten, dass mein sauberer und ordentlicher Sohn ranzenschwingend von der Schule nach Hause kommt und wir beide ein Lied anstimmen. Der Hund mit eingeschlossen!«
»Das klingt nach sehr gesunden Ambitionen!«
Damit hatte sie etwas Falsches gesagt.
»Gesund! Hören Sie auf, mich zu bemuttern. Ich verlier allmählich meinen beschissenen Verstand. Ich weiß nicht, wie man ein ›normales‹ Leben führt. Was ich wissen will, ist: Was können Sie für mich tun?«
Sie sah so wütend aus, dass es Madeleine die Sprache verschlug. Sie war an Wutausbrüche gewöhnt, das war ein normales Merkmal der Übertragung, aber kaum schon in der ersten Sitzung. Es war ziemlich ungewöhnlich und zweifellos interessant.
»Ich glaube, dass ich für den Anfang Ihren Zorn zur Kenntnis nehmen kann.«
»Ach, verkneifen Sie sich den Mist«, fauchte Rachel. »Was ich brauche, ist eine Methode, mit diesem Kerl, dem Vater meines Sohnes, klarzukommen.« Sie lehnte sich zurück und atmete tief durch. »Tut mir leid. Ich verhalte mich so, wenn ich nicht rauchen kann. Und ich bin am Ende meiner Nerven. Ich weiß, dass mein Ex ziemlich bald hier aufkreuzen wird. Soviel ich weiß, war er noch nie in Bath, aber wenn er uns finden will, dann findet er uns auch … Darauf möchte ich gern vorbereitet sein. Ich will ihm nicht wieder nachgeben. Gleichzeitig habe ich eine entsetzliche Angst, dass er sich Sascha schnappt und abhaut. Er hat das für den Fall angedroht, dass wir nicht jederzeit für ihn erreichbar sind. Und damit meint er, wenn wir nicht in London wohnen, am besten bei ihm.«
Madeleine nickte. Allmählich wurde ihr das ungeheure Ausmaß der Bedrohung dieser Frau und ihres Sohnes klar. Sie mochte zwar eine kompetente Therapeutin sein, aber an Patienten, die sich in solch einer verwirrenden und Furcht erregenden Situation befanden, war sie nicht gewöhnt.
Rachel spürte das offenbar. »Glauben Sie, dass es überhaupt sinnvoll ist, wenn ich damit zu Ihnen komme?«, fragte sie mit plötzlicher Sanftheit. »Können Sie mir wirklich helfen?«
»Das weiß ich noch nicht«, gab Madeleine zu. »Es gibt hier zwei Probleme: zum einen Ihre Reaktion auf diesen Mann und das damit
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