Erdbeerkönigin
sagte er langsam, als ob er sich verteidigen müsste: »Und wenn?«
Eva änderte ihre Haltung nicht. »Was soll das heißen?« Sie kuschelte sich ein wenig enger an ihn. »Mach doch!«
Daniel schwieg. Endlich sagte er: »Meine Eltern flippen völlig aus. Die finden das unseriös, reden von brotloser Kunst. Als Hobby? Ja gern! Aber als Beruf? Niemals! Meine Freunde finden das eher ein wenig angeberisch. Manche finden es auch super. Für die bin ich ein Exzentriker.« Er verstärkte den Druck seines Armes um Evas Schulter. »Und du sagst nur: Mach doch?«
Eva berührte ihn am Knie. Noch war diese magische Nacht nicht zu Ende. Noch war alles möglich. »Genau. Mach das. Werd Maler!«
Daniel sah sie unverwandt an. Sein Mund verzog sich zu einem Lächeln, und seine Miene bekam etwas Entschlossenes. Er nickte erst versonnen, dann energischer. Nach einem tiefen Atemzug sprang er so schnell auf, dass Eva zusammenzuckte.
Daniel öffnete die Arme und rief fast jubelnd: »Also gut, die Erdbeerkönigin verkündet Daniel Eisenthuer: Greif nach deinem Glück – wozu hast du zwei Hände!« Er lachte und sie musste mitlachen. Dann nahm er ihre Hand. »Und weißt du, was ich dann male? Das Meer! Es gibt nichts Größeres und Schöneres. Ich will das Meer malen, so wie es noch keiner gemalt hat. So, dass man das Gefühl hat, darin zu versinken.« Er wirbelte im Kreis herum, warf den Kopf in den Nacken und erinnerte Eva jetzt an ein ausgelassenes Kind auf dem Spielplatz. Am liebsten wäre sie auch aufgesprungen, aber dann blieb sie doch sitzen. Daniel zeigte hinaus auf das Wasser und winkte einem vorbeifahrenden Schiff zu, dessen Lichter in der Dämmerung leuchteten. »Hey, Kapitän! Nimm mich mit!« Er drehte sich zu Eva um und ließ sich überraschend vor ihr auf die Knie fallen. Er ergriff wieder ihre Hand und fragte mit einer ihr neuen Dringlichkeit: »Du hältst mich also für so stark und begabt? Was aber, wenn jemand anderes vor mir das Meer so malt?« Sein Gesicht sah jetzt verzweifelt aus, und seine Sorge rührte Eva. Wie sollte sie seine Bedenken zerstreuen? War es denn überhaupt möglich, dass jemand genau das Bild malte, das Daniel vorschwebte? Nachdenklich sah sie ihn an.
Daniel fragte: »Und für dich? Was bedeutet Glück für dich?«
Eva dachte nach. Es fiel ihr schwer, die Gedanken, die in ihrem Kopf durcheinanderliefen, in Worte zu fassen. Doch da flackerte eine Erinnerung in ihr auf und sie sagte: »Meine Mutter hat vor ein paar Jahren einmal für die Ferien ein Haus an der Nordsee gemietet. Da waren wir einen Sommer lang. Ich bin manchmal allein mit dem Fahrrad los. Habe meine Strandtasche gepackt und bin den Deich hochgefahren.« Daniel sah sie neugierig an.
Eva fuhr fort: »Der Moment, kurz bevor man auf dem Deich angelangt ist, der Moment, in dem man das Meer schon hören und riechen kann, der Moment, in dem man weiß, dass man in der nächsten Sekunde das Meer sehen wird – das ist Glück.«
Sie schloss die Augen und sah wieder das alte rosafarbene Fahrrad und ihre bunte Strandtasche vor sich. Den grün bewachsenen steilen Deich und dann das Meer, das am Horizont mit dem Himmel verschmolz und ihren Blick in die Unendlichkeit lenkte. Dann öffnete sie die Augen wieder. Sie spürte, dass Daniel verstand, was sie ausdrücken wollte. Sie hielten einander an den Händen. Daniel lehnte seine Wange an ihre. »Vielleicht kommst du mit in die weite Welt, kleine Erdbeerkönigin?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. So saßen sie nebeneinander im Sand und sahen zu, wie die Sonne aufging.
Über den Kuss am Pool sprachen sie nicht mehr.
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13 . Kapitel
Wenn Du die Gedanken anderer Menschen lesen könntest, was glaubst Du, würde Dich am meisten überraschen?
(Gesprächsstoff: Original)
Mittwoch und Donnerstag, Tag 8 und 9
W ir sind ständig von Spiegeln umgeben, die wir sorgsam mit dunklen Tüchern verhängen. Weil wir Angst haben, uns selbst zu sehen – mit unseren vielen Fehlern, unseren kleinlichen Empfindungen. Weil wir Erinnerungen verdrängen oder Schwächen nicht eingestehen möchten. Manchmal aber kommt das Leben an einen Punkt der Wahrheit. Dann fallen die Tücher, und wir haben gar keine andere Chance, als in die Spiegel zu schauen. An solch einem Wahrheitspunkt bin ich heute angelangt.
In Wahrheit hatte ich nie
vergessen,
dass wir mit der Fähre die Elbe weiter hinausgefahren sind. Vielmehr ist es so, dass ich die Flucht von Tante Hedwigs Geburtstagsfeier tief in mir
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