Erdbeerkönigin
gespeichert hatte. In einem geschützten Winkel meines Gedächtnisses, in dem es keine Worte, sondern nur Bilder und Gefühle gibt. Die Stunden mit Daniel waren immer mein Geheimnis. Sie gehörten nur mir – wie eine schöne Pflanze in einem verschlossenen Garten, zu dem nur ich den Schlüssel besaß. Anfangs war ich häufig in diesem Garten, doch je älter ich wurde, desto seltener griff ich zum Schlüssel. Bis ich sogar vergessen hatte, wo er hing, und stattdessen ein weiteres dunkles Tuch vor einem der Spiegel drapierte.
Der Bus Richtung Innenstadt ist voll mit nassgeregneten Menschen. Schon beim zweiten Stopp räume ich meinen Sitzplatz für eine alte Dame und klammere mich nun an einen Haltegriff vor dem hinteren Ausgang. Wie ein leichtes Hungerfühl begleitet meine Gedanken wieder die Sehnsucht nach Nick. Als ob Daniel ohne Nick für mich nicht denkbar ist. Oder ist es nur mein schlechtes Gewissen? Ein schlechtes Gewissen wegen eines Toten? Ärgerlich verdränge ich diesen Gedanken. Stattdessen fummle ich mein Handy aus der Tasche und rufe Nick kurz entschlossen an. Eine dumme Idee in dem Gedränge. Nick ist sehr kurz angebunden. »Eva, schön, dass du anrufst«, sagt er zwar zu Anfang, aber ich erkenne sofort an seiner Stimme, dass er nicht allein ist. »Du, die Antje ist gerade hier«, sagt er dann auch prompt. »Sie will etwas über Windkrafträder wissen. Weil die im Kindergarten was darüber machen.« Krampfhaft drücke ich das Handy an mein Ohr und werde an der nächsten Haltestelle von den Aussteigenden fast mit nach draußen geschoben. Dabei drängelt sich ein Halbwüchsiger so eng an mir vorbei, dass er mir beinahe meine Handtasche von der Schulter reißt. Ich kann sie nur im letzten Moment noch festhalten. In dem Durcheinander höre ich Nicks reichlich aufgekratzte Stimme: »Bei Windrädern kann Antje ja keinen Besseren als mich fragen. Oder?«
Ausgerechnet Antje, meine Kollegin bei den Grünen Damen, die Nick nach eigenem Bekunden bei Dorffesten oder Grillabenden mit ihrem lauten Gekicher auf die Nerven fällt. Vielleicht liegt es daran, dass sie als Kindergärtnerin täglich stundenlang mit Menschen unter sechs Jahren zu tun hat. Die lachen und kichern ja auch immerzu und häufig ohne ersichtlichen Grund. Was ich meistens beneidenswert, im Fall von Antje jedoch eher anstrengend finde. In jedem Fall höre ich ihr Gegluckse jetzt trotz des Lärmpegels im Bus deutlich. Ich bin verletzt und wütend – und zwinge mich, es nicht zu zeigen. Darauf, dass Nick und Antje sich gönnerhaft über »die eifersüchtige Eva« austauschen, kann ich verzichten. Auch darauf, dass ich beim nächsten Dienst bei den Grünen Damen dumme Kommentare hören muss. Deswegen verabschiede ich mich schnell und fühle mich schrecklich. »Bis bald!«, ruft Nick als Letztes.
»Bis bald!«
Als ob ich eine Arbeitskollegin wäre.
Wütend starre ich in das Häusergrau. Wenn es wenigstens aufhören würde zu regnen! Aber das Hamburger Wetter denkt gar nicht daran. Als ich an der Hoheluftchaussee ankomme, habe ich überhaupt keine Lust, wieder in Daniels leere, stille Wohnung zurückzukehren und dem Regen vor dem Fenster zuzuschauen. Mir ist heute nicht danach, mich weiter mit den Gespenstern aus Daniels Leben zu beschäftigen. Ich stülpe die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und trotte die Straße entlang, lasse Daniels Haus links liegen und gehe weiter.
Aber wohin? An der zweiten Straßenecke entdecke ich eine Kneipe, die ich bisher übersehen habe. Sie passt gar nicht in diese noble Gegend. Schon das schlichte grüne Schild mit den weißen Lettern und der simple Name »Bei Bruno« wirken wie aus einer anderen Zeit und einer anderen Welt. Viel zu ländlich und bodenständig. Hier trifft sich die Schickeria bestimmt nicht. Neugierig stoße ich die schwere Tür auf.
»Bei Bruno« sieht nicht nur aus wie eine gemütliche Kneipe, es riecht hier auch so: nach Bier, Zigaretten und Wiener Schnitzel. In der einen Ecke tagt eine Gruppe um einen großen Tisch, vielleicht die Sitzung eines Elternbeirats, eine Mitgliederversammlung oder das Treffen eines Partei-Ortsvereins. Auf der anderen Seite läuft in mäßiger Lautstärke im Fernseher ein Fußballspiel, vor dem zwei Paare sitzen und ihr Feierabendbier genießen. Am Tresen links belauern sich zwei Schachspieler mit Hefeweizen neben dem Brett. Ich hänge meine nasse Jacke an einen Haken, schüttle mir die Tropfen aus den Haaren und setze mich rechts an die Theke. Schon beim
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