Erdbeerkönigin
Überfliegen der Speisekarte entspanne ich mich. Das vertraute, stressfreie Angebot hätte ich in dieser Stadt, in der es überkandidelte Angebote wie gefrorenen Milchtee gibt, nicht erwartet. Bier vom Fass, Matjesfilet mit Apfel-Zwiebel-Sahnesoße, Bockwurst mit Kartoffelsalat, Leberkäse mit Bratkartoffeln und Spiegelei. Ich entscheide mich für ein kleines Bier und bestelle beim Mann hinter dem Tresen, einem rundlichen Mittfünfziger mit freundlichen Augen, das Matjesfilet.
Während ich auf mein Essen warte, wandern meine Gedanken wieder zu Nick. Ich komme mir weggeschubst vor. Vielleicht findet Nick Antjes Kicherei gar nicht mehr so nervig, sondern lebensfroh? Nachdenklich trinke ich das Bier. Was wäre, wenn Nick sich einmal für eine andere Frau interessierte? Bin ich noch die Frau, in die er sich damals verliebte? Bin ich für ihn überhaupt noch liebenswert?
Als ich zahlen will, stelle ich erschrocken fest, dass der Reißverschluss an der Seite meiner Handtasche offen ist. Schrecklich! In dieser Tasche steckt mein Portemonnaie. Oder besser, dort sollte es stecken. Hektisch krame ich mit der Hand in der Tasche. Nichts. Mein Portemonnaie ist weg.
Nervös kippe ich den Inhalt der Tasche auf den Tresen. Vielleicht habe ich die Börse ja auch in das andere Fach gesteckt. Aber meine Suche bleibt erfolglos.
»Kann ich helfen?« Der Wirt beobachtet mich.
»Mein Portemonnaie ist weg«, bringe ich mit heißem Kopf hervor. Noch einmal wühle ich erfolglos in meiner Handtasche.
»Gucken Sie doch noch einmal in Ihrer Jackentasche nach«, empfiehlt er.
Aber auch dort ist es nicht. Glücklicherweise habe ich alle wichtigen Papiere in der Wohnung. In dem Portemonnaie war nur Geld. Das wäre jetzt allerdings wichtig.
»Ich muss mein Portemonnaie verloren haben. Aber ich wohne hier in der Nähe«, erkläre ich dem Wirt. »Ich könnte meine EC -Karte holen und Geld aus dem Automaten ziehen.« Der Wirt sieht mich skeptisch an. Mit hochrotem Gesicht versuche ich noch einmal zu verhandeln. »Ich bin gleich wieder da. Bestimmt. Ich wohne da drüben.« Ich zeige unbestimmt nach rechts. Siedend heiß fällt mir ein, dass das nicht stimmt. In meiner Aufregung habe ich rechts und links verwechselt. Schnell korrigiere ich die Richtung, obwohl der Wirt doch gar nicht wissen kann, dass meine erste Aussage nicht stimmt. »Nein, Verzeihung, nicht da runter, sondern hier. Also, da drüben entlang.« Selbst in meinen eigenen Ohren klingt das sehr unglaubwürdig, zumal auch noch meine Stimme zittert. »Ich weiß nicht, ich kenne Sie doch gar nicht«, sagt der Wirt, aber er versucht nett zu sein. »Lassen Sie mir Ihren Ausweis hier. Wenn Sie bezahlt haben, bekommen Sie ihn wieder.« Kopfschüttelnd murmle ich: »Ich habe keine Ahnung, wo ich meine Börse verloren habe. Im Bus hatte ich sie noch.«
Während ich das sage, fällt mir der Jugendliche ein, der mir fast meine Handtasche von der Schulter gezogen hat. Das war also kein Versehen, sondern Absicht. Der hat mein Portemonnaie gestohlen! Noch immer fixiert mich der Wirt erwartungsvoll.
»Ich habe auch den Ausweis nicht mit dabei«, antworte ich verlegen und ratlos.
»Aha.« Der Wirt ist zu einer Entscheidung gekommen. Mit einem fast entschuldigenden Blick sagt er: »Ich rufe jetzt mal die Polizei. Die nehmen Ihre Diebstahlanzeige auf, und dann kommen Sie morgen vorbei und bezahlen die Zeche.«
»Nein, bitte tun Sie das nicht. Ich hole das Geld sofort.« Meine Stimme versagt. Der Wirt wiederholt mit fester Stimme: »Gute Frau, jetzt hören Sie auf. Ich hole die Polizei. Und das nächste Mal sollten Sie Ihr Portemonnaie lieber bei sich haben, bevor Sie etwas bestellen.«
»Aber Sie bekommen doch Ihr Geld –«
Da mischt sich einer der Schachspieler in das Gespräch. »Wohnen Sie nicht in der Wohnung von Daniel Eisenthuer?« Verblüfft sehe ich an.
»Ja, das stimmt. Kannten Sie Herrn Eisenthuer?«
Der Schachspieler, ein hagerer Mann Anfang vierzig, nickt. »Allerdings, ich wohne nämlich in demselben Haus.« Er zeigt nach oben. »Ein Stockwerk über Ihnen. Ich habe Sie schon ein paarmal gesehen, wenn Sie auf dem Balkon Kaffee getrunken haben.« Er lächelt wie ertappt, und dann stellt er sich vor. »Ich bin Udo Meyer.« Er deutet auf seinen Gegenspieler. »Das ist mein Bruder Bertram.« Bertram sieht seinem Bruder zwar überhaupt nicht ähnlich, hat aber ein ebenso sympathisches Lächeln. Er begrüßt mich. »Wir sind also Nachbarn.« Udo Meyer wendet sich an den Wirt. »Bruno,
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